Der schlafende Engel
du hergekommen? Um deinen Triumph auszukosten?« Sie starrte die alte Frau an. »Aber dir scheint das ja völlig egal zu sein, was?«
»Natürlich nicht, Sam. Du weißt genau, dass es mir nicht egal ist, genauso wenig wie den anderen. Aber du weißt auch, dass Annabel sich dieses Leben selbst ausgesucht hat. Sie hat sich aus freien Stücken dafür entschieden.«
»Aber hätte sie nicht …«
»Es gibt so viele Wenns und Abers, Samantha«, warf die alte Frau beschwichtigend ein. »Und keines davon macht sie wieder lebendig. Wieso wartest du nicht im Wagen? Ich komme gleich nach, okay?«
Mit einem vernichtenden Blick in Aprils Richtung machte sie kehrt, nickte und ging davon.
Die Frau verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
»Ich kann mich nur entschuldigen«, sagte sie. »Bei Gelegenheiten wie dieser können die Gefühle schon einmal mit einem durchgehen. Man sucht zwangsläufig jemanden, dem man die Schuld an allem geben kann.«
»Das verstehe ich, wirklich.« April berührte ihre glühende Wange und wand sich unbehaglich unter dem eindringlichen Blick der alten Frau. Sie verströmte unübersehbar Chic und Eleganz, als wäre sie einst eine gefeierte Schauspielerin gewesen oder gehörte einem niedrigen Adelsgeschlecht an.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe mich Ihnen nicht vorgestellt«, sagte sie und streckte April die Hand hin. »Ich bin Elizabeth Holden, Annabels Mutter.«
April fiel die Kinnlade herunter.
»Oh Gott, das tut mir … aufrichtig leid …«, stammelte sie und schüttelte Mrs Holden die Hand. »Ich hatte ja keine Ahnung. Ich meine …«
Mrs Holden lächelte freundlich und berührte Aprils Arm.
»Wollen wir ein Stück zusammen gehen?« Sie nickte in Richtung des Kieswegs, und April folgte ihr beklommen zurück zur Kapelle. Seit dem surrealen Vorfall im Büro des Rektors hatte sie jede Nacht im Geiste den brutalen Tod von Annabel Holden noch einmal durchlebt – an Mr Sheldons Schreibtischstuhl gefesselt, während Benjamin Osbourne, dessen Gesicht zu einer hässlichen Vampirfratze verzerrt war, sie mit dem Feuerzeug gequält hatte. Zumindest war ihr der Anblick erspart geblieben, wie Benjamin ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte, doch dank ihrer blühenden Fantasie hatte sie die Bilder klar und deutlich vor sich gesehen – normalerweise war dies der Moment, wenn sie japsend und tränenüberströmt aus ihrem Albtraum schreckte.
»Als Annabel in Ihrem Alter war«, sagte die alte Dame nach einer Weile, »wollte sie auch nichts mit den Vampiren zu tun haben.«
April sah sie verblüfft an.
»Oh ja, ich weiß alles darüber«, fuhr Mrs Holden fort. »Unsere Familie gehört seit Generationen zu den Wächtern. Ich habe Annabel angefleht, ihnen nicht beizutreten … aber nun ja, mir ist klar, wer die Schuld an ihrem Tod trägt. Sie.«
»Die … äh …« April brachte es nicht über sich, das Wort laut auszusprechen.
»Genau, April. Die Vampire. Deshalb habe ich niemanden aus Ravenwood zum Begräbnis eingeladen. Ich wollte nicht, dass sie auftauchen und sich in ihrem Triumph aalen.«
»Und wieso wurde ich eingeladen?«
Elizabeth Holden lachte leise. »Weil ich Sie kennenlernen wollte, natürlich«, antwortete sie. »Ich wollte die Furie mit eigenen Augen sehen.«
Aprils Herz zog sich zusammen.
»Sie wissen also …«
»Natürlich weiß ich Bescheid, April. Ich weiß alles. Und am allerwichtigsten war mir, zu erfahren, weshalb meine Tochter ermordet wurde.«
»Oh Gott. Es tut mir so leid, Mrs Holden, aber ich …«
»Ist schon gut, April. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Was ich vorhin zu Samantha gesagt habe, war die Wahrheit: Annabel war eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen getroffen hat, selbst wenn sie sie in Gefahr gebracht haben. Ich habe meinen Mann in diesem verdammten Krieg verloren und hatte weiß Gott mehr als genug Zeit, meinen Frieden damit zu schließen.«
Sie wandte sich April mit einem betrübten Lächeln zu.
»Sie dagegen hatten keine andere Wahl, sondern haben sich vermutlich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.«
»Ja«, antwortete April erleichtert. »So in der Art.«
»Ich wünschte, ich könnte Sie trösten, Ihnen sagen, dass alles gut wird, aber vermutlich wäre das nicht allzu überzeugend, wenn man bedenkt, wo wir hier sind.«
»Nein, vermutlich nicht.«
Wieder musterte Mrs Holden April durchdringend.
»Hören Sie mir zu, April. Was ich Ihnen jetzt sage, ist sehr wichtig. Sie müssen gegen sie kämpfen.«
»Ich … ich versuche es
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