Der schlafende Engel
hergefahren?«
Er nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand durch sein schlohweißes Haar. Er wirkte ein klein wenig angespannt und verwirrt.
»Ja, ich bin gerade eingetroffen«, antwortete April. »Alles in Ordnung?«
»Oh ja.« Er polierte seine Brille mit dem Krawattenzipfel. »Ich bin nur ein bisschen … na ja, die Aussicht auf die Beerdigung ist nicht gerade erfreulich.«
Das kannst du laut sagen , dachte April. Auch sie war alles andere als versessen darauf, Miss Holdens Angehörigen in die Arme zu laufen. Sie hatte schreckliche Gewissensbisse wegen ihrer einstigen Lehrerin. Aber jetzt hatte sie zumindest jemanden an ihrer Seite, der ihr wohlgesonnen war. Peter Noble, der Herausgeber einer Londoner Zeitung, war ein uralter Freund ihres Vaters und – jetzt, wo sie darüber nachdachte – einer der wenigen netten Menschen, denen sie bei seinem Begräbnis vor einem halben Jahr begegnet war. Du meine Güte, ist Daddy tatsächlich erst seit sechs Monaten tot? Der Tag, an dem sie ihn in einer Blutlache gefunden hatte, schien eher ein halbes Jahrhundert zurückzuliegen.
»Weißt du zufällig, wo die Trauerfeier stattfindet?«, fragte April. »Ich fürchte, ich habe mich verlaufen.«
Peter rang sich ein Lächeln ab. »Das passiert hier ganz schnell. Der Friedhof erstreckt sich über eine Länge von fünf Meilen. Aber soweit ich weiß, geht es hier entlang.«
Er führte sie über einen Kiesweg zu ihrer Linken, vorbei an überwucherten Gräbern. Düstere Stille hing zwischen ihnen. Aber wie sollte man auch in Plauderlaune sein, wenn man sich auf dem Weg zum Begräbnis einer jungen Frau befand, die von einem durchgeknallten Vampir zuerst gefoltert und schließlich getötet worden war?
»Weißt du, wieso es hier so wenige Gräber gibt?«, fragte April und ließ den Blick über die offenen Felder links und rechts von ihnen schweifen. »Ich dachte, der Friedhof wäre bis zum letzten Platz voll.«
»Das ist er auch«, antwortete Peter. »Hier liegen rund 150 000 Menschen begraben. Siehst du diese Einbuchtungen in der Erde? Das sind die Gräber. Direkt darunter liegen noch all die Knochen und Schädel.«
April erschauderte und starrte auf ihre Füße. Vielleicht trampelte sie ja in dieser Sekunde über irgendeine arme Seele hinweg. Eigentlich sollte sie an so etwas gewöhnt sein, schließlich besuchte sie regelmäßig das Grab ihres Vaters auf dem Highgate Cemetery, andererseits hatte sie stets das dumpfe Gefühl gehabt, dass William Dunne der einzige Mensch war, der dort auch wirklich begraben lag.
»Aber wieso gibt es denn keine Grabsteine?«
Peter zuckte mit den Schultern. »Sie wurden entfernt.«
»Entfernt?«
Er nickte.
»Man kann ein Grab immer nur für einen bestimmten Zeitraum mieten. Nach Ablauf dieser Zeitspanne wird der Platz an jemand anderen vergeben. Es ist ein Geschäft wie jedes andere auch.«
»Igitt! Das heißt also, die Leute werden übereinander begraben?«
»Das klingt eklig, ich weiß, aber so wurde es schon immer gemacht. Als die Leute noch in kleinen Dörfern gewohnt haben, wurden alle Verstorbenen auf dem Friedhof hinter der Kirche begraben. Hätte jeder seinen eigenen Platz, würde der Platz ja niemals ausreichen.«
»Woher weißt du das alles?«
»In meinem Alter verbringt man eine Menge Zeit bei Begräbnissen, April.«
April nickte. Dasselbe könnte sie auch von sich behaupten. Schweigend gingen sie weiter, bis sie um eine Ecke bogen und ein Grüppchen schwarz gekleideter Trauergäste vor der gedrungenen Kapelle aus Ziegelstein am Ende des Pfads ausmachten. April zögerte. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht.
»Wieso bist du eigentlich hier, Onkel Peter?«, fragte sie, um beim Anblick der feindseligen Gesichter ein wenig Zeit zu schinden. »Du kanntest Miss Holden doch gar nicht, oder?«
»Annabel kannte ich nicht besonders gut, aber ihren Vater sehr wohl. Die Familie stammt aus der Gegend, deshalb wird sie auch hier draußen beerdigt. Annabel war in den letzten Jahren meine Anlaufstelle, wenn ich über ein geschichtliches Thema schreiben musste. Ich glaube, sie wusste mehr über Geschichte als jeder andere Mensch, den ich kannte. Was für ein Verlust.«
April blickte wieder zur Kapelle hinüber.
»Ja, das stimmt.«
Peter berührte ihren Arm.
»Das muss sehr schlimm für dich sein. Aber du musst nicht hineingehen, wenn du nicht willst.«
»Oh doch, das muss ich. Wir haben uns zwar nur ein paar Mal getroffen, aber sie war immer sehr nett zu mir.
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