Der schlaue Pate
unvorbereitet. Desirée erzählte, was Andreas über das deutsche Justizwesen gesagt hatte, und das verblüffte mich noch mehr. Keine Berufungsinstanz? Kein Wortprotokoll? Deshalb schien der blinde Protokollführer so wenig zu tun zu haben. Allmächtige Richter, die an keine Regeln gebunden sind? Ich konnte es nicht fassen. Gestern war mir aufgefallen, dass die Vorsitzende Richterin nicht einmal einen Hammer hatte.
Als wir noch draußen auf dem Gang warteten, redete Desirée zu meiner Überraschung und zur Missbilligung ihrer Familie mit Sophie Kaiser.
Kurz vor halb schoben sich die drei Berufsrichter, noch ohne Roben, durch die Menge, die Vorsitzende blickte mit gerunzelter Stirn zu den beiden jungen Frauen, bevor sie hinter den anderen durch eine Tür verschwand. Dann kontrollierten die beiden Justizbeamten unsere Einlasskarten, und ich sicherte mir meinen Stammplatz. Wie an den anderen Verhandlungstagen passierte erst mal gar nichts, bis die Prozessbeteiligten hereinkamen. Punkt neun der Gong, das Gericht kam herein, wir erhoben uns alle, die Vorsitzende wedelte mit einer Hand, wir setzten uns.
»Wir beginnen nun mit der Beweisaufnahme«, eröffnete die Vorsitzende Richterin. »Augenscheinsobjekte und Urkunden werden bei der Befragung der betreffenden Zeugen oder Sachverständigen aufgenommen beziehungsweise verlesen. Als erste Zeugin rufe ich Sophie Kaiser auf. Die polizeiliche Vernehmung steht in Band eins, ab Blatt fünf.«
Diese Juristen haben ihre eigene Sprache. Ich habe keine Ahnung, wieso eine Akte Band und eine Seite Blatt heißt. Alle blätterten.
Sophie Kaiser erhob sich und setzte sich an den Zeugentisch, mit dem Rücken zum Publikum.
»Ich belehre Sie zunächst darüber, dass Sie die Wahrheit zu sagen haben und nichts auslassen dürfen. Eine unrichtige oder unvollständige Aussage ist auch ohne Vereidigung eine Straftat, die mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann. Am Ende Ihrer Vernehmung besteht die Möglichkeit zur Vereidigung. Bitte sagen Sie nur, was Sie selbst wissen. Haben Sie alles verstanden?«
Die Antwort war nicht zu verstehen. »Sie müssen den Knopf drücken, Frau Kaiser.«
»Entschuldigung. Ja. Ich meine, ja, ich habe alles verstanden.«
Die Vorsitzende lächelte freundlich auf die Zeugin herab. »Ich muss das fragen: Name und Alter?« Obwohl es natürlich in der Akte stand.
»Sophie Kaiser, neunzehn Jahre alt.« Es folgten noch Fragen nach Beruf und Wohnort, was ebenfalls alles in der Akte stand.
»Mit dem Angeklagten nicht verwandt oder verschwägert?«
»Nein.«
»Kennen Sie ihn überhaupt?«
»Ja, aber ich habe ihn bis zum Beginn der Verhandlung seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen.«
»Sie sind die Tochter der Geschädigten. Können Sie ungefähr sagen, wann Sie den Angeklagten zum letzten Mal gesehen haben?«
»Ich glaube, zum letzten Mal besuchte er uns, als mein kleinster Bruder Markus gerade geboren war. Er ist jetzt fünf, also müsste es etwa fünf Jahre her sein.«
»Wissen Sie noch, aus welchem Grund er Sie besuchte?«
»Na ja, er hatte eine sehr enge Beziehung zu meiner Mutter. Sie hat ihn gefragt, ob er Pate werden wollte, aber er war aus der Kirche ausgetreten, deshalb ging das nicht. Markus heißt jetzt mit zweitem Vornamen Ewald.«
Das rief einige Überraschung im Zuschauerraum hervor. Auch die Vorsitzende warf dem Angeklagten einen erstaunten Blick zu und forderte die Zeugin dann auf, zusammenhängend zu erzählen, was am 30. und 31. Dezember passiert war.
»Meine Mutter hat meiner Schwester Marie und mir erzählt, dass sie sich in den ganzen Jahren immer wieder heimlich mit Ewald getroffen habe und dass sie sich an diesem Abend auch wieder mit ihm treffen wolle. Er sei ihr ältester und vertrautester Freund überhaupt, der Einzige, dem sie immer alles erzähle. Und heute Abend wolle sie vielleicht herausfinden, ob er nicht doch der Richtige sei. Aber wir sollten den Brüdern noch nichts davon sagen, weil die sehr an ihrem Vater hängen.«
»Wie reagierten Sie auf diese Ankündigung?«
Sophie Kaisers Stimme schien zu lächeln, aber zu sehen war das natürlich nicht. »Ich habe mich sehr für sie gefreut. Ich habe Ewald immer gemocht. Meine Mutter erzählte, als ich klein war und wir nur zu zweit in einer Wohnung wohnten, habe sie öfter gefragt, wer uns denn am Wochenende besuchen soll, der Papa oder der Ewald, und ich hätte übers ganze Gesicht gestrahlt und ›Ewald‹ gesagt.«
Ich warf einen Blick auf den Exmann, der den Kopf
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