Der schlaue Pate
Ich hatte den Eindruck, dass das Gericht sich bloß ein Bild von der Person der Zeugen machen wollte. Es ging um alle möglichen Maße und Abstände, obwohl man doch davon ausgehen sollte, dass das alles genauestens vermessen und in den Akten dokumentiert war.
Andreas erklärte mir später, das liege am »Mündlichkeitsprinzip«: Sämtlicher Verfahrensstoff, der die Entscheidung trägt, muss vorher mündlich erörtert werden; außerdem kennen die Schöffen die Akten nicht. Ständig ergaben sich kleinste Widersprüche der verschiedenen Aussagen, worauf die Vorsitzende die Prozessbeteiligten nach vorn rief, die alle dem Zeugen und den Zuschauern den Rücken zuwandten und die Sicht versperrten. Offenbar zeigte sie Tatortfotos, über deren Interpretation und ob die Schätzungen der Zeugen vertretbar waren, leise ohne Mikro debattiert wurde. Das Publikum verstand von alledem kaum ein Wort und bekam auch die Fotos nicht zu sehen. Wenn ein Zeuge etwas geringfügig anderes aussagte, als schon in der Akte stand, wurde ihm das nicht vorgelesen, sondern »vorgehalten«. Nach klarstellenden Aussagen der Zeugen ergaben sich diese Widersprüche offenbar vor allem aus der sprachlichen Unfähigkeit der vernehmenden Kriminalpolizisten, das Gesagte in beamtenkonforme Schriftform zu übertragen.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass es bei alldem irgendeinen Erkenntnisgewinn gab. Die Minuten schlichen dahin; manche Zuschauer stöhnten oft leise vor sich hin. Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung hatten fast nie Rückfragen, und wenn, schienen sie mir eher zufällig zu sein. Um zwölf wurde für eine Stunde unterbrochen, ab eins ging die Tortur weitere drei Stunden mit Leuten von der Spurensicherung weiter, die erklärten, sie könnten sich nicht vorstellen, dass noch weitere Personen zur Tatzeit am Tatort gewesen seien, aber auf Andreas’ Rückfragen einräumen mussten, völlig auszuschließen sei es nicht, wenn sie ähnliche Schutzkleidung trugen wie die Spurensicherer selber.
Erst am Schluss wurde es noch einmal spannend, als der Fingerabdruckexperte aussagte. Der Angeklagte habe das Messer in der rechten Faust gehalten, die Klinge sei zwischen Daumen und Zeigefinger hervorgetreten, und er habe von unten zugestochen. Wenn man versucht, den Korken einer Weinflasche zu zerschneiden oder in die Flasche zu drücken, sei es wahrscheinlich, dass man das Messer andersherum in der Faust hält, um eine stärkere Hebelwirkung zu erzielen. Auf Andreas’ Rückfrage, ob man nicht auch die Faust drehen könne, was er pantomimisch vorführte, räumte der Zeuge das ein. Die Vorsitzende vertagte auf den 13. April. Schon wieder ein Freitag, der Dreizehnte. Ein seltsames Jahr.
Als ich in der Tiefgarage unterm Friedrichsplatz meinen Wagen aufschloss, prallte ich entsetzt zurück. Es saß jemand auf dem Beifahrersitz.
Prinz.
Ich atmete aus und stieg ein. »Ich frage nicht, wie du das gemacht hast. Ist irgendwas kaputt?«
»Nein.«
»Willst du irgendwohin?«
»Nur kurz mit dir reden. Fahr nicht los.« Seine Augen wanderten ständig umher. Offenbar sollte uns niemand sehen. »Du kennst doch den Chefredakteur der HNA .«
»Flüchtig. Wieso?«
»Wenn du etwas exklusiv hast, kannst du es in die Zeitung bringen?«
»Wenn es ein Knüller ist, bestimmt.«
Er nickte. »Kennst du jemanden bei der Staatsanwaltschaft?«
»Eigentlich nicht.« Ich überlegte. »Die Frau von Mario ist Juristin beim Arbeitsamt, die ist mit einem befreundet, sie haben zusammen studiert. Mit dem habe ich mich mal bei einer Geburtstagsfeier unterhalten.«
»Wer ist Mario?«
»Der Fotograf, mit dem ich manchmal für den Jérôme unterwegs bin.«
Noch ein Nicken. »Okay. Morgen, spätestens übermorgen wirst du anonyme Post aus der Schweiz bekommen. Ich sage dir nicht, was drin ist, zieh deine eigenen Schlüsse daraus. Am 17. Dezember ist auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit richterlichen Beschlüssen die ganze hiesige Bande der Russenmafia hochgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft hat bestimmte Hinweise von dritter Seite bekommen. Ich sage dir nicht, von wem oder was für Hinweise. Der Leitende Oberstaatsanwalt war seit dem 12. Dezember krankgeschrieben. Du rufst diesen Staatsanwalt zu Hause privat an und fragst, ob er mal gehört hat, dass bei eiligen Anträgen, die besser der Leitende unterschreiben sollte, seine Unterschrift abgepaust wird, wenn er nicht da ist. Du rufst die Pressestellen der Gerichte und der Staatsanwaltschaft an und fragst, ob
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