Der schlaue Pate
den Drogeriemarkt, als ihr etwas einfiel: Sophie ist eine richtige Leseratte geworden, und ich bedauerte, nicht mit ihr über Bücher reden zu können. Die Stadtbibliothek im hinteren Anbau des Rathauses, der an das Multiplex grenzte, dort war auch ein Eingang. Deshalb hatte sie sie verpasst. Desirée nahm den kürzeren Weg durchs Rathaus, doch sie musste sich auf der Treppe und den langen Fluren an Hunderten Verwaltungsleuten vorbeikämpfen, die gerade Feierabend machten und ihr entgegenströmten, viele mit gesenkten Köpfen auf Smartphones herumdrückend. Als sie endlich in der stillen, fast leeren Bibliothek war, war sie außer Atem und schwitzte.
Sie zog die Jacke aus und lief den langen Gang entlang, von dem links die Räume mit den Themengebieten abgingen. Keine Sophie Kaiser bei den Krimis, der Belletristik, der Literaturwissenschaft, den Biografien, den fremdsprachigen Büchern … Sie fand sie schließlich bei Sozialwesen und Recht, in einem Buch blätternd. Sie schlich die andere Seite des Regals entlang und versuchte, durch die Buchreihen einen Blick auf das Cover zu erhaschen.
Sophie Kaiser las in einem Buch über spektakuläre Fehlurteile.
Desirée bog um die Ecke und ging auf sie zu. Sie sah auf.
»Hallo. Ich bin Desirée.« Sie streckte ihr die Hand hin.
Sophie Kaiser zögerte. Aber nur kurz. »Wie ich heiße, weißt du ja.«
Sofortiges Du, registrierte Desirée erfreut, wie in unserem Alter üblich. Sie war etwa drei Jahre älter als Ellen Kaisers Tochter.
»Du bist eine von denen, die für ihn arbeiten.« Sie betonte das ähnlich wie Desirée, wenn sie von ihrem Vater sprach.
»Eigentlich studiere ich Geschichte. Ich mache nur manchmal Recherchen. Das Buch da habe ich auch mal gelesen, bei unserem ersten Fall, da ging es um ein Fehlurteil.«
Sophie lächelte. Es lief viel entspannter, als Desirée gedacht hatte: Zwei junge Frauen lernen sich kennen. »Über euch soll es auch ein Buch geben.«
»Sie haben es hier. Vorn bei den Krimis. Ich kann es dir zeigen.«
»Gut.« Sophie nahm das Buch über Fehlurteile mit.
Sie schlenderten nebeneinander den langen Gang zurück.
»Ich habe dich auch an der Uni schon mal gesehen.«
»Studierst du nicht in Münster?«
»Ich bin jetzt hier eingeschrieben. Saed ist bei uns eingezogen, und ich spiele an der Seite meines Stiefvaters die Ersatzmama für meine Stiefbrüder.«
Beinahe wäre Desirée herausgerutscht, wie traurig sie das fand. »Hast du keinen Freund?«
»Nicht mehr. Glaubst du wirklich, dass er unschuldig ist?«
Desirée nickte. »Wir werden den Beweis dafür hoffentlich noch bringen können. Aber er hat mir und unserem Gutachter, diesem älteren Psychologieprofessor, seine ganze Geschichte erzählt. Von ihm und … deiner Mutter. Auch wenn sie wegen des Schnapses Streit gehabt haben sollten, er hätte sie niemals umgebracht. Ich habe einen Brief gelesen, den sie ihm geschrieben hat. Der ist nicht bei den Akten, weil die Anklage das Andenken deiner Mutter schützen wollte, und Andreas, das ist unser Anwalt, hat bisher keinen Antrag gestellt, ihn als Beweismittel aufzunehmen.«
Sophie nickte. »Was steht drin?«
»Ich habe eine Kopie dabei.« Desirée blieb stehen. »Aber ich warne dich lieber gleich, Sophie: Wenn du das gelesen hast, wirst du vielleicht entsetzt über deine Mutter sein. Auf jeden Fall wirst du sie mit ganz anderen Augen sehen.« Desirée zögerte. »Von meiner Mutter würde ich so etwas nicht wissen wollen.«
»Aber die lebt noch, oder?«
»Ja. Die lebt noch.«
»Gib her.«
Desirée beobachtete Sophies Gesicht, als sie den Brief las. Nach wenigen Sekunden blickte sie auf, dann wankte sie mit einknickenden Knien in einen der Räume und sank in einen Stuhl. Tränen strömten über ihr Gesicht, als sie weiterlas.
Desirée zog einen anderen Stuhl heran. Sophie sah sie aus verheulten Augen an und gab ihr den Brief zurück, der an mehreren Stellen nass war.
»Ich habe seine Antwort gelesen.« Sie hatte kaum noch Stimme, aber sie schluchzte nicht. »Als wir über Ostern das ganze Haus absuchten, habe ich sie gefunden. Ganz unten in einer verschlossenen Schublade war eine Mappe versteckt, mit allen seinen Briefen an sie, auch Fotos, die sie damals auf dem Internat von sich gemacht hatten, und vielen, vielen lustigen Kärtchen, die er ihr geschickt hat. Ich habe sie wieder versteckt und das keinem erzählt.«
Desirée wartete. Dann sagte sie leise: »Deshalb hast du ihn heute anders angesehen als letzte
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