Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
abgeklopft, sodass kaum noch eine Schneeflocke an ihr haftet. Der Junge reckt den Kopf nach draußen, und sein dunkles Haar wird weiß, überall liegt die Erde unter der Traurigkeit der Engel, nirgends Weide für das Vieh, weder auf den Wiesen noch am Fjordufer, alle Tiere eingestallt, die Bauern legen ihnen die Halme einzeln vor, auf manchen Höfen gibt es kaum mehr als Reste von Heu, und die Tiere mähen und muhen nach einem besseren Leben, aber die Wolken sind dicht, kein Laut dringt bis in den Himmel. Ólafías Trittspuren heben sich einsam von der Straße ab und verwischen schon wieder; längst zugeschneit ist die Spur von Þorvaldur, der in aller Frühe zur Kirche gegangen ist, um Gott für das Leben und die Gnade zu danken. Welche Gnade, fragen wir bloß. Als Þorvaldur aus der Kirche kam, verfluchte er die Raben und warf ein paar Schneebälle nach ihnen, schien sie aber nicht treffen zu können, während sie reglos auf dem First saßen, zu dem Pfarrer hinabäugten und schadenfroh krächzten. Der Junge sperrt die Welt aus, öffnet die Innentür und ruft laut: Ólafía ist da!
Sie zuckt zusammen, als sie ihren Namen so laut und ohne Zögern gerufen hört, denn welcher Name hat es schon verdient, so laut ausgerufen zu werden, dass ihn viele hören, welches Leben hat das verdient?
Das Schicksal knüpft so manche unerwartete Verbindung. Dafür sollten wir dankbar sein, sonst wäre so vieles vorhersehbar, es gäbe nur wenig Bewegung in der Luft, die uns umgibt, so wenig, dass sie abgestanden und stickig würde, das Leben würde schläfrig und matt. Du erinnerst dich hoffentlich noch an Brynjólfur? Den Kapitän von Snorris Kutter, der in der Schankstube vornüber auf den Tisch sank, übermannt von zwölf Bier und langer Schlaflosigkeit. Der Junge hatte ihm gegenübergesessen und seinen Freund hinter dem Skipper angestarrt, bis er sich in kalte Luft auflöste. Die Schönheit des Lebens war gestorben.
Helga hatte den Käpt’n einfach auf den Fußboden gebettet.
Was Besseres hat der nicht verdient, sagte sie, als Geirþrúður wollte, dass sie Brynjólfur in das Gästezimmer trugen, in dem Jens schnarchte, bis Kolbeinn aus angeborener Übellaunigkeit mit dem Stock gegen die Wand polterte, oder aus der Verzweiflung desjenigen, der das Augenlicht verloren hat und nicht reden kann. Immerhin bekam Brynjólfur ein Kissen unter den groben Schädel geschoben.
Wie ein Felsbrocken, hatte der Junge gemurrt, als er sich abmühte, das Kissen an Ort und Stelle zu stopfen. Helga hatte eine dicke schottische Wolldecke über den Kapitän gebreitet und dann Ólafía aufgesucht.
Sie wusste ungefähr, wo Brynjólfur und Ólafía wohnten, aber das war auch schon so ziemlich alles; nie hatte sie sich mit Ólafía unterhalten, nie nah genug bei ihr gestanden, um den nicht gerade süßen Geruch ihres großen, plumpen Körpers wahrzunehmen, geschweige denn in ihre runden Augen geblickt, die oft voller Regen und nasser Pferde zu sein schienen. Diese Augen verfolgen mich überall und zwingen mich zu saufen, hat Brynjólfur behauptet, und darum haben viele hier Ólafía für sein übermäßiges Trinken verantwortlich gemacht; es reichte, die Frau nur kurz zu sehen, schon packte einen die Verzweiflung. Es stimmt ja auch, dass kaum etwas größeren Eindruck auf einen macht als Augen; manchmal sehen wir ein ganzes Leben in ihnen, und das kann unerträglich sein. Vielleicht trinkt Brynjólfur aber auch, weil er trotz der Kraft seiner Arme schwach geworden ist. Des Menschen Unglück kommt häufiger von innen, als wir annehmen. Helga hatte Ólafía bloß Bescheid sagen wollen, wo ihr Mann gelandet war. Nach kurzer Suche fand sie das Haus, Ólafía öffnete vorsichtig die Tür, und Helga blickte in runde Augen voller Regen und bis auf die Haut nasser Pferde.
Seitdem ist Ólafía das eine oder andere Mal gekommen, um ein wenig auszuhelfen.
Morgens gekommen, abends gegangen, um die Abendessenszeit, bevor sie die Wirtschaft schließen, sich ins Wohnzimmer setzen und der Junge mit dem Vorlesen beginnt, was ihm zunehmend besser gelingt; manchmal hat man sogar schon einen zufriedenen Ausdruck auf Kolbeinns Gesicht bemerkt, aber das kann auch eine Täuschung gewesen sein. Ólafía ist rot angelaufen, als Helga sie einmal einlud, sich zu ihnen zu setzen, sie murmelte einen Abschiedsgruß und verschwand ohne Antwort.
Du hast ein so gutes Herz, dass dich das Leben umbringen würde, wenn ich nicht auf dich achtgäbe, hatte Geirþrúður zu Helga
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