Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
gesagt, nachdem Ólafía das erste Mal zu Besuch gewesen war.
Hast du etwas dagegen, dass sie gelegentlich zu uns kommt?
Nein, nein, es ist gut, zerbrechliche Menschen um sich zu haben, das hilft einem, die Welt besser zu verstehen, obwohl ich nicht immer weiß, was ich mit diesem Verständnis anfangen soll.
Ólafía arbeitet nicht gerade flink, sie bewegt sich schwerfällig, als habe sie Sand im Blut, aber dafür arbeitet sie ausdauernd und macht ihre Sache ordentlich. Ihre Hände sind voller Schwielen und hart wie Holz, die Finger aber schlank und gelenkig.
Helga weckte Brynjólfur nach zwölf Stunden Schlaf oder besser nach zwölf Stunden Bewusstlosigkeit recht unsanft.
Deine Ólafía hat einen bedeutend besseren Mann verdient als dich, sagte sie, als Brynjólfur mit bösen Kopfschmerzen über seinen Kaffee und ein kräftiges Essen gebeugt saß. Jemand versuchte, seinen Schädel in Stücke zu schlagen. Er wollte etwas über die hypnotisierenden Augen seiner Frau sagen, über das Lähmende ihrer Gegenwart, über alles, was sie auf ihn wirken ließ wie ein Schaf und was es ihm so schwer machte, es zu Hause auszuhalten, aber immerhin hatte er noch Grips genug im Schädel, darüber die Klappe zu halten, außerdem hatte er genug damit zu tun, das Essen bei sich zu behalten. Seine breiten Schultern hingen herab, und er wirkte wie ein alter Mann.
Das Schiff hat mich abgewiesen, sagte er schließlich leise wie zu sich selbst oder zur Tischplatte, die ihm darauf nichts erwiderte, denn tote Dinge kennen nicht viele Worte. Helga blickte den Jungen an. Mach, dass du rauskommst, sagte sie.
Eine halbe Stunde später bat sie den Jungen, mit Brynjólfur aufs Schiff zu gehen, den alten Seebären zu begleiten, der einmal für seine Tollkühnheit berühmt gewesen war, jetzt aber nach eigenem Bekunden alt und zu nichts mehr zu gebrauchen war und glaubte, dass ihn sein Schiff ablehnen würde. Helga trug dem Jungen auf, mit ihm zu der Kiesbank hinabzugehen, wo das Schiff wartete.
Ich habe ihm erzählt, du hättest besondere Fähigkeiten, manchmal ist es eben notwendig, Leuten etwas vorzulügen, um ihnen zu helfen.
Der Kutter von Snorri war das einzige Schiff mit einem geschlossenen Deck, es lag von großen Böcken gestützt noch am Ufer, die anderen waren längst ausgelaufen. Als sie noch ein paar Hundert Meter von ihm entfernt waren, blieb Brynjólfur stehen, betrachtete das Schiff, das an einen gestrandeten Wal erinnerte, und griff dann nach der Schulter des Jungen, um Kraft daraus zu ziehen. Der Junge hielt regungslos stand und tat so, als verfüge er tatsächlich über besondere Eigenschaften, wie Helga von ihm behauptet hatte; dabei biss er sich still auf die Lippen, denn es fühlte sich zeitweilig so an, als würde Brynjólfur ihm die Schulter zermalmen. Dann gingen sie an Bord. Das Schiff ließ den Kapitän an sich heran. Er warf sich flach aufs Deck und küsste die Planken.
Brynjólfur brauchte eine Weile, um die Luke zu öffnen. Der Deckel war festgefroren.
Man könnte glauben, es sei vorherbestimmt, dass ich nicht nach unten komme, murmelte er und stieß die Luft aus, aber am Ende schaffte er es doch. Sie stiegen hinab, es war so kalt und dunkel, als hätte Brynjólfur ein Loch im Dasein geöffnet und sie würden in die Verzweiflung selbst hinabtauchen, aber das Morgenlicht stach durch die Luke wie eine Lanze in ein dunkles Ungeheuer.
Brynjólfur tastete sich auf der Suche nach einer Laterne voran, denn lebendige Menschen sehen in solcher Dunkelheit nichts, er stieß schließlich auf eine Petroleumlampe; das Licht flammte auf, und mit ihm die Hoffnung. Wenig später traf auch die Besatzung, die Helga aufgescheucht hatte, nach und nach beim Schiff ein.
Als Erster kam Jonni der Koch, untersetzt und komplett kahl, mit aufgedunsenem Gesicht und neugierigen, aber freundlichen Schellfischaugen. Er umarmte Brynjólfur, als sei er aus der Hölle zurück, was ja nicht ganz falsch war, und verschwand fast in dessen Umarmung, der Junge sah bloß die Glatze, es sah aus, als würde Brynjólfur den Vollmond umarmen. Jonni suchte sich einen Eimer, kletterte wieder an Land, füllte den Eimer mit Schnee und machte sich daran, Kaffee zu kochen. Er hatte Mühe, ein Feuer in Gang zu kriegen, pustete und pustete in die Glut, um eine Flamme zum Leben zu erwecken, und so ist es ja immer, der Mensch muss andauernd in die Glut blasen, damit das Feuer nicht ausgeht, welchen Namen wir ihm auch geben: Leben, Liebe, Vision, nur in die Glut
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