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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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dürfte er länger bleiben, viel länger womöglich, geschützt vor der Welt, etwas lernen, was bedeutet das, soll er Englisch lernen, um mit Geirþrúðurs Kapitänen reden zu können? Versteht man die Welt besser, wenn man viele Sprachen spricht? Ein lautes, kräftiges Pochen an der Tür kam all seinen Fragen zuvor. Helga warf ihm einen Blick zu, und der Junge machte sich auf den Weg zur Tür. Noch einmal klopfte es, bevor er sie erreichte, ein ungeduldiges Pochen. Zum Donnerwetter, sagte es, kommt denn nicht endlich jemand?! Der Junge riss die Tür auf und fuhr gleich vor einer handschuhbekleideten Faust zurück, die drohend vor ihm auftauchte, als wollte ihr Besitzer, ein großer, kräftiger Mann, sie ihm geradewegs ins Gesicht schmettern und ihn so für die lange Wartezeit bestrafen; dann aber öffnete sich die Faust, verwandelte sich in eine offene Hand, die den Schnee von einem dicken Mantel mit gefüttertem Kragen klopfte.
    Guten Tag, ich muss Geirþrúður sprechen, sagte der Mann und redete wie ein Gewehr, denn manche Wörter sind wie Kugeln und manche Menschen wie Gewehre.
    Der Mann stellte das Abklopfen ein, kapitulierte vielleicht vor dem Schnee und dem Himmel, der größer ist als alle Menschen, das schien sogar diesem hochgewachsenen, kräftigen Mann klar zu werden. Er trat ein, blickte auf den Jungen herab, war fast einen Kopf größer als er, ließ kurz ein Lächeln sehen und fragte: Wer hat dir denn die Zunge rausgeschnitten? Er nahm die Pelzmütze ab, sein Haar war grau, der Bart schwarz und sorgfältig getrimmt, tief liegende graue Augen unter buschigen Brauen schienen eine große Kraft auszustrahlen.
    Es ist nicht immer gut, zu reden, gab der Junge zurück und bekam Atemnot. Der Mann öffnete den Anorak, lächelte kurz und sagte: Da hast du absolut recht, und der Junge fühlte sich, als hätte er eine Medaille gewonnen. Hol trotzdem die Geirþrúður, und zwar sofort, denn Zeit ist kostbar, vergiss das nie.
    Zeit ist kostbar.
    Das hatte der Junge noch nie gehört.
    Bis dahin war die Zeit einfach vergangen, durch Mensch und Tier hindurchgeronnen und hatte dabei viel Kostbares mit sich genommen, aber die Zeit selbst ist doch nicht kostbar, sondern das Leben.
    Sie schläft, verkündete er schließlich, nachdem er die komische Behauptung verdaut hatte. Glaube ich jedenfalls, setzte er vorsichtig hinzu.
    Der Mann zog den Mantel aus, legte ihn zusammengefaltet über den Arm und trug darunter ein doppelreihiges Jackett, das über seiner breiten Brust spannte. Entweder der Mensch wacht, oder er schläft, da gibt es kein »glaube ich«. Wer zweifelt, kommt nie irgendwo hin. Lauf jetzt und sag, dass ich gekommen bin. Es ist für niemanden gesund, am hellen Tag zu schlafen. Ich kenne den Weg ins Wohnzimmer. Bring mir dann einen Kaffee, pechschwarz.
    Der Junge eilte in die Küche. Da ist ein Mann, der mit Geirþrúður sprechen will, sagte er. Ich glaube, er mag es nicht, lange zu warten, er hat sich selbst ins Wohnzimmer eingeladen, ich glaube, es ist Friðrik, er will seinen Kaffee schwarz.
    Helga band die weiße Schürze ab. Man glaubt nicht, jemand sei Friðrik, sagt sie. Friðrik ist Friðrik, und jeder weiß, wie er seinen Kaffee trinkt. Dem Mann gehört praktisch alles hier, auf seine Weise. Sie wird in fünf Minuten da sein. Ólafía, den Kaffee, befiehlt Helga, aber Ólafía hat schon mit dem Eingießen begonnen, mit leicht zitternden Händen.
    Es ist vielleicht zu viel gesagt, dass wir Friðrik gehören, das trifft denn doch eher auf Tryggvi zu, den Besitzer des Handelsimperiums, das im Ort und den nahe liegenden Fjorden schaltet und waltet. Wir müssen erst sterben, um dessen Macht zu entkommen. Tryggvi verbringt die langen Wintermonate mit seiner dänischen Frau in Kopenhagen. Wer kann, flieht den Winter und die erstickende Dunkelheit, und all diese langen Wintermonate über ruhen Macht und Verantwortung von Tryggvis Geschäft voll und ganz bei Friðrik, der überall zu sein scheint, allgegenwärtig wie die Luft zum Atmen, ob wir an Deck eines Kutters weit draußen auf hoher See stehen, uns über den Salzfisch auf der Kiesbank bücken oder auf dem Klo hocken.
    Friðrik nahm die Kaffeetasse entgegen, ohne den Jungen eines Blickes zu würdigen. Obwohl er brennend heiß war, schluckte er den Kaffee so hastig, als ob er die Hitze gar nicht spüre, genau wie der Teufel, dachte der Junge.
    Ich habe von dir gehört, richtete Friðrik das Wort an ihn. Pétur ist ein guter Vormann, nicht viele geben einen

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