Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Jetzt wäre es schön, zu schlafen, bis sich die Träume in Himmel verwandeln, in einen stillen Himmel ohne Wind, einzelne Engelsfedern schweben herab, sonst nichts, bis auf die Seligkeit dessen, der nichts weiß von sich selbst. Doch der Schlaf flieht die Toten. Wenn wir die starrenden Augen schließen, stellen sich Erinnerungen ein, kein Schlaf. Erst kommen sie vereinzelt, sind sogar schön wie Silber, dann werden sie rasch zu dunklem, alles erstickendem Schneefall, und so ist es seit mehr als siebzig Jahren. Die Zeit vergeht, die Leute sterben, der Leichnam sinkt in die Erde, mehr wissen wir nicht. Vom Himmel ist hier wenig zu sehen, die Berge nehmen ihn uns, und das Wetter, das diese Berge heftig aufladen, ist dunkel wie das Ende; doch wenn sich nach einem Sturm ein Ausschnitt des Himmels zeigt, meinen wir weiße Streifen von den Engeln zu sehen, weit oben über den Wolken und Bergen, über den Fehlern und Liebkosungen der Menschen, weiße Streifen wie die Verheißung eines großen Glücks. Diese Aussicht erfüllt uns mit kindlicher Freude, und eine längst vergessene Zuversicht regt sich wieder, die unsere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nur noch tiefer macht. So ist das, helles Licht macht tiefe Schatten, großem Glück entspricht ein ebenso großes Unglück. Das Leben ist einfach, der Mensch ist es nicht. Was wir die Rätsel des Lebens nennen, ist unser eigenes Durcheinander, sind unsere eigenen dunklen Abgründe. Die Antworten hält der Tod bereit, der uns die Einsicht in ein uraltes Wissen öffnet. Das ist natürlich Unsinn. Was wir wissen, was wir gelernt haben, ist nicht dem Tod entwachsen, sondern aus Gedichten, aus Verzweiflung und den Erinnerungen daran, was Glück bedeutet. Wir verfügen über kein tiefes Wissen, aber was in uns bebt und zittert tritt an seine Stelle und ist vielleicht besser. Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt, weiter als irgendjemand zuvor, unsere Augen sind wie Regentropfen, voller Himmel, klarer Luft und Nichts. Du kannst uns gefahrlos zuhören. Aber wenn du vergisst, dein Leben zu leben, endest du wie wir, eine flüchtig umhergetriebene Herde zwischen Leben und Tod. So tot, so kalt, so tot. Doch irgendwo tief in den Gefilden des Denkens, dieses Bewusstseins, das den Menschen so groß und zum Teufel macht, flackert noch ein verborgenes Licht und will nicht verlöschen, es weigert sich, der erdrückenden Dunkelheit nachzugeben, dem erstickenden Tod. Dieses Licht nährt uns und quält uns, es bringt uns dazu, weiterzumachen, anstatt uns einfach nur wie Tiere ohne Sprache hinzulegen und auf das zu warten, was vielleicht niemals kommen wird. Das Licht flackert, und wir machen also weiter. Unsere Bewegungen sind unsicher, zögernd, aber das Ziel ist klar: die Welt zu retten. Dich und uns zu retten mit diesen Geschichten, diesen Splittern aus Gedichten und Träumen, die vor langer Zeit ins Vergessen gefallen sind. Wir sitzen in einem morschen Ruderboot mit einem brüchigen Netz und wollen Sterne fischen.
Manche Wörter sind Muscheln in der Zeit, vielleicht liegt in ihnen die Erinnerung an dich
I
Irgendwo in Frost und treibendem Schneefall hat es zu dämmern begonnen, und die Dunkelheit des April drängt zwischen den Schneeflocken näher, die sich auf den Mann und seine beiden Pferde setzen. Alles ist weiß von Reif und Schnee, dabei steht doch der Frühling vor der Tür. Sie kämpfen gegen den Nordwind an, der stärker ist als alles in diesem Land, der Mann sitzt vorgebeugt auf dem einen Pferd, hält den Führzügel des anderen fest in der Hand, sie sind längst von Weiß und Eisklumpen überkrustet und werden wahrscheinlich bald selbst zu Schnee: Der Nordwind will sie noch einkassieren, bevor der Frühling kommt. Die Pferde waten durch den weichen Schnee, das hintere trägt eine unförmige Last auf dem Rücken, einen Koffer oder Stapel von Trockenfisch oder zwei Leichen, und die Dunkelheit wird dichter, aber nicht vollständig finster, es ist doch April, und zäh stapfen die Pferde weiter mit der bewundernswerten oder abgestumpften Sturheit, die kennzeichnend ist für alle Wesen, die am äußersten Rand der bewohnbaren Welt leben. Ewig lockt die Versuchung, dass man aufgibt, viele tun’s auch und lassen sich vom Alltag einschneien, bis sie festsitzen, kein Abenteuer mehr vor ihnen, bloß stehen bleiben und sich vom Schnee zudecken lassen, in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder aufklart und der heitere Himmel kehrt zurück. Aber die Pferde und der Reiter leisten
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