Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
einer Parallelwelt durch immer neue Schneestürme zu irren? Vielleicht werden die lebenden Menschen sie vereinzelt schemenhaft wahrnehmen wie ein undeutliches Traumbild, wie eine weit entfernte Verzweiflung, die nichts lindern kann, am wenigsten die Zeit.
Es lässt sich auch nicht sagen, dass sie jetzt gehen würden. Sie wanken und schwanken, sie fallen und kriechen, und manchmal fängt einer von ihnen an zu kichern, und dann lacht der andere auch, und schließlich hocken sie beide da und lachen oder kreischen oder heulen, was genau es ist, lässt sich nicht entscheiden. Irgendwann rappeln sie sich schweigend wieder auf, ohne sich anzusehen. Jens stürzt, und der Junge braucht lange, um dem schweren Mann wieder aufzuhelfen. Der Junge fällt, und selbst Jens muss seine schwindenden Kräfte zusammennehmen, um den Jungen hochzuzerren, der anschließend eine ganze Zeit an der Schulter des Landbriefträgers hängt wie eine absonderliche Posttasche. Jens muss sich abstützen, um das Gewicht halten zu können, das er unter normalen Umständen meilenweit getragen hätte, ohne etwas davon zu merken.
Ich liebe sie nicht, murmelt der Junge nah an seinem Ohr.
Wen?
Ragnheiður.
Welche Ragnheiður?
Du kennst sie. Die Tochter von Friðrík.
Hast du was mit ihr?, fragt Jens.
Ich weiß nicht, antwortet der Junge. Nein, ich habe nichts mit ihr. Ich weiß nur, dass sie Schultern aus Mondschein hat.
Zum Teufel damit, schimpft Jens, halt dich von diesen Leuten fern, Junge!
Ich werde ganz schwach, wenn ich sie sehe. Ist das Liebe?, fragt der Junge.
Was fragst du mich das?
Du liebst doch.
Hör auf, mit solchen Wörtern um dich zu werfen!
Es ist nur das Herz, das schlägt, Jens.
Ich habe überhaupt kein Interesse, dich aus dem Frost und den Bergen zu retten, wenn du anschließend Friðrík hinten reinkriechen willst.
Sie hat die Mondscheinschultern, Jens, nicht er.
Kommt aufs Gleiche raus, sagt der Briefträger.
Vielleicht liebe ich sie gar nicht, überlegt der Junge, aber sie könnte mir wahrscheinlich befehlen, zu sterben.
Pfui, hört sich das widerlich an, wie du redest, meint Jens.
Sie stehen noch an Ort und Stelle, schwanken unter der Gewalt des Sturms und stecken die Köpfe zusammen, als würde ihnen das Schutz geben. Sie sind viel zu erschöpft, um einander loszulassen, zu ausgepumpt, um zu denken, sie reden einfach drauflos, die Worte kommen an die Oberfläche, und da schöpfen sie sie ab.
Willst du zu ihr?, fragt der Junge.
Ja.
Dann musst du das hier überleben.
Ohne das wird’s nicht gehen, sagt Jens, und sie lassen sich los, tappen weiter. Es geht nun wieder nach unten, es wird steiler, sehr steil, und der Wind will sie von den Beinen holen.
Jetzt besser nicht abrutschen, ruft Jens und tastet sich, gegen Wind und Gefälle das Gleichgewicht haltend, abwärts. Wir wissen nicht, was unter uns ist.
Nein, ruft der Junge zurück, vielleicht eine scharfe Kante, dann ein Abgrund und unterhalb davon das Meer. Wir würden kopfüber in die pechschwarze See stürzen.
Scheiße!, brüllt Jens und regt sich wahnsinnig darüber auf, dass der Junge nicht ein einziges Mal das Maul halten kann, verdammt und zugenäht, schreit er und achtet ganz kurz nicht darauf, wo er hintritt, und mehr braucht es nicht. Er rutscht ab, gerät ins Straucheln und reißt im Fallen dem Jungen die Beine weg. Im gleichen Moment rutschen und fallen sie schon mit irrsinniger Geschwindigkeit in die Tiefe, sausen rücklings einen Hang hinab oder genauer einen Steilhang, und unten lauert vielleicht das Meer. Vielleicht schießen sie bald über eine Steilkante, schweben einen Augenblick lang wie Schneeflocken in der Luft, oder wie Engelsflügel, wie die Trauer der Engel, und fallen dann wie Steine dem nassen Tod entgegen. Sie rasen abwärts, und als Erster fängt Jens an zu schreien, dann der Junge. Zwei brüllende Männer in rasendem Fall bergab, durch Nacht und Sturm einen steilen Abhang hinab. Zwei schreiende Männer, die am Ende mit einem schweren Aufprall auf etwas Hartem aufschlagen. Erst Jens. Sekundenbruchteile später der Junge, nur einen halben Meter von ihm entfernt. Dann verlischt die Welt.
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