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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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nicht weit von meinem Laborfenster aufhält, wo er beharrlich und laut die am Ufer liegenden Baumstämme zerlegt, weil er nach Insekten sucht. Fliegt über ihm eine Verkehrsmaschine oder ein knatterndes kleines Privatflugzeug dahin, hält er in seiner Arbeit inne, blickt auf und folgt dem Weg des Flugzeugs über den Himmel, als sei er der Meinung, er und dieses fliegende Objekt gehörten derselben Spezies an. Was sich auf dem Boden bewegt, interessiert ihn – mit Ausnahme der Ameisen im Totholz – nicht im Geringsten; aber diese lärmenden Maschinen in der Luft findet er bemerkenswert.
    Die erste Phase im Paarungsverhalten eines Monarchfalters spielt sich ausschließlich in der Luft ab und besteht aus dem beschwingten Tanz, wie wir ihn alle im Frühsommer beobachten können – zwei Individuen umkreisen einander mit heftig flatternden Flügeln, und ihre Bewegungen sind so rhythmisch, dass wir uns einreden könnten, wir sähen sichtbar gemachte Musik. Sie sind ganz im Bann der Balz, und diese Zeit der Verzauberung ist so schön und vergänglich wie die Jugend. Die nächste Phase beginnt, wenn das Männchen das Weibchen auf den Boden lockt, wo das Paar bis zu einer Stunde miteinander vereinigt ist. Danach leitet das Weibchen die erstaunliche Metamorphose ein: Es legt seine Eier auf dem Blatt einer Seidenpflanze ab, und eine Raupe wird geboren, ein Organismus, der es nicht bequem hat, sondern sich mehrmals mühselig häuten muss, ehe er beginnt, die Hülle zu spinnen, in die er sich dann einschließt, um seine Existenz als glatte grüne, sich zunehmend verhärtende Puppe zu beginnen. Jede dieser kleinen festen Mumien ist so dicht bepackt mit genetischem Gedächtnis, dass der schlüpfende Monarchfalter, noch während seine Flügel sich in der Sonne entfalten und glätten, genau weiß, auf welchem Baum er sich mit seinen Gefährten versammeln muss und welche Route seine Wanderung nehmen wird.
    Als ich heute Morgen erwachte, war auf dem Schmetterlingsbaum neben der Sanctuary Line kein einziger Flügel mehr zu sehen. Trotz meines Berufs hat mich vor ein paar Tagen die gewaltige Anzahl von Monarchen doch überrascht – als wäre in der Nacht ein urzeitlicher Gott vorübergegangen und hätte, ehe er wieder in die Antike zurückkehrte, zehntausend kleine orangefarbene Wachslichter in den Baum gesetzt, und alles Leben auf Erden beschränkte sich auf diesen einen Baum. Alles andere war von dieser Reglosigkeit erfüllt, wie sie Anfang September auf den Sonnenaufgang folgt – im großen See spiegelte sich der Himmel, und die Vögel waren ganz still.
    Ich kehrte ins Haus zurück, um die Kamera zu holen, aber was Sie auf dem Foto sehen, das ich Ihnen schicke, mag Ihnen wie die Verfärbung der Blätter, der Beginn des Herbstes erscheinen. Es ist offenbar unmöglich, den Beweis der vollkommenen Übereinstimmung unter diesen Geschöpfen gleichen Sinnes und ähnlichen Willens einzufangen und festzuhalten. Vielleicht ist das alles nicht so verschieden vom Hadsch, von dem Sie mir erzählt haben, und der Baum eine Moschee, und dieser eine besondere Berg in Mexiko eine Art Mekka, nach dem sie alle streben. Die Monarchen, die jetzt von meiner Seite des Sees aufgebrochen sind, werden ihre Reise nur ein einziges Mal machen, aber im Verlauf ihrer gesamten Entwicklung, vielleicht vom Zeitpunkt der Zeugung an, wussten ihre Zellen, dass sie die Anstrengung vollbringen müssen, die erforderlich ist, um die heilige Stätte zu erreichen. Angeblich glauben die Mexikaner, die ihre Ankunft beobachten, dass sie der alljährlichen Wiederkehr der Seelen ihrer geliebten Toten beiwohnen.
    Und jetzt ist abermals ein klarer Morgen. Ich komme gerade vom Wald zurück, der heute ein fast undurchdringliches Dickicht ist, weil keine Tiere, weder wilde noch zahme, in der Lage sind, dort noch zu weiden. An der nordöstlichen Ecke ist er allerdings bis zu einem gewissen Punkt noch zugänglich, denn dort fließt der Bach hinein. Ich zog also Schuhe und Socken aus und watete genau wie damals, vor so vielen Jahren, zwischen den Böschungen unseres Flusses, wie Teo und ich immer sagten, durchs Wasser. Heute gibt es nicht mehr so viele kleine braune Forellen, aber eine oder zwei sah ich doch vor meinen watenden Knöcheln davonflitzen, und einmal hätte ich geschworen, dass ich eine von Teos provisorischen Inseln entdeckt hatte, aber dann war es nur ein abgestorbener Ast, um den sich so viel Schlamm angesammelt hatte, dass eine aus dem Wasser ragende Aufschüttung

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