Der Schnupfen
heimlich meine Sachen zu packen. Die Scham und die Loyalität.
Am Nachmittag kam Barth in meine Mansarde. Er wirkte ein bißchen verlegen. Er brachte eine Neuigkeit. Inspektor Pingaud, der Verbindungsmann zwischen der Sûreté
und Barths Team, lud uns beide zu sich ein. Es ging um einen Fall, bei dem einer seiner Kollegen, der Kommissar Leclerc, die. Untersuchung geführt hatte. Pingaud meinte, wir sollten den Fall kennenlernen. Selbstverständlich stimmte ich zu, und wir fuhren zusammen nach Paris. Pingaud erwartete uns. Ich erkannte ihn als den graumelierten Schweiger an Barths Seite vom Abend zuvor. Er war sehr viel älter, als ich geglaubt hatte. Er empfing uns in einem kleinen Eckzimmer und erhob sich hinter dem Schreibtisch, auf dem ein Tonbandgerät stand. Ohne Einleitung sagte er, der Kommissar sei vorgestern bei ihm gewesen, er sei pensioniert, besuche aber hin und wieder seine alten Bekannten. Im Gespräch seien sie auf den Fall gekommen, den Leclerc nicht persönlich darstellen könne, auf Bitten des Inspektors habe er ihn jedoch - auf Band gesprochen. Nachdem er uns gebeten hatte, Platz zu nehmen, weil das eine längere Geschichte sei, verließ uns Pingaud, anscheinend aus Höflichkeit, um uns nicht zu stören, aber mir kam das ziemlich seltsam vor.
Zuviel Entgegenkommen für eine Polizei, nun schon gar die französische. Zuviel, aber auch zuwenig. Ich witterte keine groben Lügen in Pingauds Bericht; es konnte sich nicht um fingierte Untersuchungen, um eine fiktive Geschichte handeln, und der Kommissar war bestimmt bereits pensioniert. Aber was wäre trotzdem leichter gewesen als uns mit ihm irgendwo zusammenzubringen? Ich konnte noch begreifen, daß sie uns keine Akten zeigen wollten, das sind Heiligtümer für sie, aber die Tonbandaufnahme ließ vermuten, daß sie jede Diskussion unmöglich machen wollten. Die Information sollte ohne Kommentar stattfinden. Ein Tonband kann man nichts fragen. Was verbarg sich dahinter? Barth war entweder genauso aus der Bahn geworfen wie ich, oder er wollte, mußte vielleicht seine Zweifel für sich behalten. Das schoß mir alles durch den
Kopf, als aus dem eingeschalteten Tonbandgerät eine tiefe, selbstsichere, ein wenig kurzatmige Stimme ertönte.
»Sehr geehrter Herr. Damit es keine Mißverständnisse gibt - ich erzähle Ihnen, was ich erzählen kann. Inspektor Pingaud bürgt für Sie, aber es gibt Vorgänge, die ich verschweige. Ich kenne das Dossier» mit dem Sie hergekommen sind, ich habe es früher kennengelernt als Sie, und ich sage, was ich denke: Das ist kein Material für eine Strafverfolgung. Verstehen Sie, was ich meine? Was nicht den Paragraphen des Strafgesetzbuches unterliegt, interessiert mich beruflich nicht. Es gibt auf der Welt Millionen unbekannter Dinge, fliegende Untertassen, Exorzismen, Kerle, die im Fernsehen aus der Entfernung Gabeln verbiegen.
Aber das geht mich als Polizisten nichts an. Als Leser von >France Soir, kann ich mich damit fünf Minuten lang beschäftigen, und >na bitte!< sagen. Wenn ich also behaupte, in dieser italienischen Affäre gebe es nichts für die Strafverfolgung, so kann ich mich irren, aber hinter mir stehen fünfunddreißig Jahre Polizeiarbeit. Im übrigen können Sie meine Ansicht verwerfen. Das ist Ihre Sache. Inspektor Pingaud hat mich gebeten, Ihnen einen Fall darzustellen, den ich vor zwei Jahren zu bearbeiten hatte. Wenn ich damit fertig bin, werden Sie verstehen, warum er nicht in die Presse kam. Von vornherein sage ich Ihnen ganz unhöflich: Sollten Sie versuchen, ihn als Material für eine Veröffentlichung zu benutzen, wird alles dementiert werden.
Warum» werden Sie auch verstehen. Es geht um die Staatsräson, und ich bin französischer Polizist. Bitte fühlen Sie sich nicht getroffen, das ist nur eine Frage der beruflichen Loyalität. Ich habe die übliche Formel ausgesprochen.
Die Sache ist zu den Akten gelegt worden. Bearbeitet hat sie die Polizei, die Sûreté und zuletzt die Abwehr. Die Mappen ruhen im Archiv, es werden mehrere Kito sein.
Ich beginne also. Die Hauptperson ist Dieudonné Proque.
Proque ist kein französisch klingender Name. Er hieß ursprünglich Procke, ein deutscher Jude» der als Junge unter Hitler im Jahr 1937 mit seinen Eltern nach Frankreich eingewandert war. Die Eltern stammten aus der bürgerlichen Mittelschicht, waren bis zur Nazizeit deutsche Patrioten, hatten entfernte Verwandte in Straßburg, die schon im 18. Jahrhundert in Frankreich seßhaft geworden waren. Ich
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