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Der Schnupfen

Der Schnupfen

Titel: Der Schnupfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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bemerkt?«
    >>Ja.«
    »Halten Sie es für möglich, mit einer Pipette wort oben soviel Wassertropfen auf diesen Tisch fallen zu lassen, wie er Nägel hat, und zwar so, daß jeder Tropfen einen Nagelkopf trifft?«
    »Nun, wenn man gut zielt, warum nicht?«
    »Und wenn man es blindlings tropfen ließe, dann nicht?«
    »Selbstverständlich nicht.«
    »Aber es genügen doch fünf Minuten Regen, und jeder Nagel bekommt bestimmt seinen Tropfen ab.«
    »Wieso … « Nun erst begann ich zu begreifen, worauf er hinauswollte.
    »la, ja, ja. Meine Ansicht ist radikal. Es gibt überhaupt kein Rätsel. Über das, was möglich ist, entscheidet die Mächtigkeit der Menge der Geschehnisse. Je mächtiger die
    Menge, desto weniger wahrscheinliche Geschehnisse können sich in ihr ereignen.«
    »Es gibt keine Serie von Opfer…?«
    »Die Opfer gibt es. Der Mechanismus des Schicksals hat sie hervorgerufen. Aus dem Abgrund der Unzählbarkeit, an den ich erinnert habe, als ich Ihnen die Anekdote er-erzählte, haben wir eine bestimmte besondere Teilmenge herausgeschält, die sich durch Ähnlichkeit in vielen Faktoren auszeichnet. Ihr haltet sie für eine ganze Serie, daher rührt ihre Rätselhaftigkeit.«
    »Sie meinen also wie Herr Lapidus, man muß nach abortiven Fällen suchen?«
    »Nein. Das meine ich nicht, denn ihr werdet keine finden. Die Menge der französischen Soldaten enthält auch die Teilmenge der Gefallenen und Verwundeten. Diese kann man leicht absondern, aber die Untermenge der Soldaten, die von den Kugeln um Haaresbreite verfehlt wurden, können Sie nicht absondern, weil sie sich nicht von denen unterscheiden, die von den Kugeln um einen Kilometer verfehlt wurden. Deshalb werdet ihr in eurem Fall nur durch Zufall etwas erfahren. Einen Gegner, der sich der Strategie des Schicksals bedient, kann man nur mit derselben Strategie schlagen.«
    »Was erzählt Ihnen denn Dr. Saussure wieder?« erklang es von hinten. Es war Dr. Barth mit einem hageren graumelierten Herrn. Er stellte ihn mir vor, aber ich verstand den Namen nicht. Barth behandelte Saussure nicht wie ein Mitglied seiner Gruppe, sondern wie eine Rarität. Ich erfuhr, der Mathematiker habe vor Jahresfrist bei Futuribles gearbeitet und sei von dort zum französischen Team der CETI gegangen, das sich mit kosmischen Zivilisationen beschäftigt, habe aber nirgendwo warm werden können. Ich fragte ihn, was er von diesen Zivilisationen halte. Ob er meine, daß es sie gebe.
    »Das ist nicht so einfach«, sagte er und stand auf. »Es gibt andere Zivilisationen, obwohl es sie nicht gibt.”
    »Wie soll man das verstehen?«
    »Es gibt sie nicht als Entsprechungen unserer Vorstellungen von ihnen, also wäre der Mensch nicht imstande, das als Zivilisation zu bezeichnen, was diese Zivilisationen ausmacht.«
    »Mag sein«, räumte ich ein, »aber in ihrer Menge müßte auch unser Platz zu bestimmen sein, nicht wahr? Entweder sind wir grauer Durchschnitt im Kosmos oder Abweichung, vielleicht sogar radikale.«
    Unsere Zuhörer brachen in Lachen aus. Erstaunt nahm ich, gerade diese Art zu argumentieren habe Saussure bewogen, die CETI zu verlassen. Er als einziger hatte nicht einmal gelächelt. Er schwieg und spielte mit seinem Taschenrechner wie mit einer Berlocke. Ich zog ihn aus dem Kreis fort zum Tisch, gab ihm ein Glas Wein, nahm selbst ein anderes, trank auf sein Bild dieser Zivilisation und bat ihn, mich in seine Konzeption einzuweihen.
    Das ist die beste Taktik, ich habe sie von Fitzpatrick gelernt, eine Verhaltensweise, bei der man nicht unterscheiden kann zwischen Ernst und seiner Karikatur. Saussure begann mir zu erklären, der ganze Fortschritt des Wissens sei nichts anderes als ein schrittweise vorgenommener Verzicht auf die Einfachheit der Welt. »Der Mensch möchte, daß alles einfach ist, auch wenn es zugleich geheimnisvoll sein sollte. Ein Gottestyp, und zwar in der Einzahl; ein Typ von Naturgesetzen; ein Typ des Entstehens der Vernunft im Kosmos und so weiter. Nehmen wir die Astronomie.
    Sie behauptete, alles, was existiere, seien Sterne in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft plus ihr Gerümpel, die Planeten. Sie mußte jedoch zugeben, daß viele Phänomene im Kosmos in dieses Schema nicht paßten. Die menschliche Sucht nach Einfachheit hat die Karriere von Ockhams Rasiermesser ermöglicht, das die Vermehrung von Existenzen, also von Klassirikationszellen, über das Notwendige hinaus unterbunden hat. Doch die Vielfalt, die wir nicht zur Kenntnis nehmen wollten,

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