Der Schnupfen
Bekannten fragten ihn, nanu, Herr Proque, Sie gehen ins Solarium, aber er wurde rot wie ein kleines Mädchen und erklärte jedem, nein, das nicht, eine scheußliche Plage sei über ihn gekommen, Furunkel an einer peinlichen Stelle, und das ziehe sich hin, der Arzt habe ihm Bestrahlungen am ganzen Körper verordnet, Quarzlampe, und dazu Vitamine und Salbe. Am Ende half ihm das auch. Der Oktober dieses Jahres war recht unfreundlich, regnerisch und kühl, der Optiker litt im Herbst besonders an seinen Schwindelund Schwächeanfällen um die Mittagszeit, wieder ging er zum Arzt, wieder verschrieb ihm dieser anregende Pillen. Gegen Ende des Monats sagte er seiner Mutter beim Mittagessen ziemlich aufgeregt und zufrieden, er habe eine gut bezahlte Arbeit, eine beträchtliche Reihe von Aufnahmen zu entwickeln und zu vergrößern, alles in Farbe, zahlreiche Abzüge, großes Format. Er rechnete mit 1 600 Francs Verdienst, das war für ihn eine erhebliche Summe. Nach sieben
Uhr abends ließ er die Jalousie herunter und schloß sich in der Dunkelkammer ein, nachdem er seiner Mutter gesagt hatte, er werde spät heimkommen, denn die Arbeit sei eilig. Gegen ein Uhr wurde die Mutter durch einen Lärm geweckt, der aus seinem Zimmer kam. Dort saß er auf dem Fußboden und weinte >so schrecklich, wie noch nie ein Mensch geweint hat< - das sind ihre Worte aus der Vernehmung. Schluchzend rief er, er habe sein Leben vertan, er müsse sich umbringen. Er zerriß seine geliebten Postkarten, warf die Möbel um, die Alte konnte nicht mit ihm fertig werden - er, der sonst so Gehorsame, nahm ihre Anwesenheit überhaupt nicht zur Kenntnis. Sie trippelte im Zimmer hinter ihm her und zog ihn an der Kleidung, er aber suchte wie in einem kitschigen Melodram erst nach einer Schnur, die Gardinenschnur war zu schwach, auch riß seine Mutter sie ihm weg, dann stürzte er sich in der Küche auf das Besteck, auf die Messer, zum Schluß wollte er nach unten gehen, um ein Gift zu holen. Er hatte ja genug Lösungen in der Dunkelkammer. Doch verließen ihn plötzlich die Kräfte, er setzte sich auf den Fußboden, schnarchte endlich und weinte noch im Schlaf. Dort schlief er bis zum Morgen, weil seine Mutter zu schwach war, ihn auf das Bett zu heben, sie wollte die Nachbarn nicht holen, sondern legte ihm nur ein Kissen unter den Kopf. Am nächsten Tag war er eigentlich normal, wenn auch sehr niedergedrückt.
Er klagte über heftige Kopfschmerzen, sagte, er fühle sich, als hätte er die ganze Nacht getrunken, dabei trank er nie mehr als einen Viertelliter Weißen zum Mittagessen, dünnen Tischwein. Nachdem er Tabletten genommen hatte, ging er in den Laden. Den Tag verbrachte er wie immer.
Kunden hatte er als Optiker nicht viel, meistens stand der Laden leer, denn er hockte im Raum dahinter, schliff Gläser oder entwickelte in der Dunkelkammer. An diesem Tag kamen vier Kunden. Er führte ein Buch, in dem er jeden Auf-trag notierte, sogar die geringsten, die er sofort ausführte. Wenn er den Kunden nicht kannte, schrieb er die Art des Auftrags auf. Natürlich betraf das nicht die Fotoarbeiten. Auch die beiden nächsten Tage vergingen ohne besondere Ereignisse. Am dritten erhielt er einen Teil des Geldes für die Abzüge und Vergrößerungen. Diese Einnahmen notierte er nicht, so dumm war er keineswegs. Das Abendessen war aufwendiger, jedenfalls für ihre Verhältnisse. Besserer Wein, Fisch, ich kann mich jetzt nicht mehr so genau erinnern, wissen Sie, aber damals owußte ich alles auswendig, sogar wie viele Sorten Käse es gab. Am nächsten Tag erhielt er von demselben Kunden einige neue Filme. Beim Mittagessen war er bester Laune, er sagte zu seiner Mutter, sie würden sich noch ein Haus bauen, abends schloß er sich wieder in der Dunkelkammer ein, und um Mitternacht vernahm seine Mutter dort einen entsetzlichen Lärm.
Sie ging hinunter, klopfte in dem kleinen Flur an die Hintertür der Dunkelkammer - dort ist eine Zwischenwand aus Sperrholz -, hörte, wie er unverständliches Zeug redete, etwas umwarf, Glas zerschlug. Damm holte sie entsetzt ihren Nachbarn, einen Stecher, der seine werkstatt in derselben Straße hat. Der Nachbar, ein ruhiger, älterer Witwer, schob mit einem Meißel den Riegel an der Zwischenwand zur Seite. Drinnen war es dunkel und fast still. Auf dem Fußboden lag Proque zwischen halb entwickelten, zusammengeklebten Negativen pornografischer Aufnahmen, sie flatterten halb zerrissen überall herum, das Linoleum war mit Chemikalien
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