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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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«Schön, schön», weil er alles von Gott vorherbestimmt sah (8/3 119f.).
    Aber solcher Gleichmut, der vertrauter ist von Omar Chayyam, gelingt nur den Übergeschnappten. Die übrigen können vom Fragen nicht lassen:
Was du auch suchst, du wirst es niemals finden,
            Geschweige denn, vom Suchen jemals lassen. (12/4, 151)
    Sich selbst vergleicht Attar mit einem Hund, der ein mondförmiges Stück Kuchen findet und gleichzeitig den kuchenförmigen Mond entdeckt. Der Hund läßt den Kuchen fahren und will den Mond haschen. Weil es ihm nicht gelingt, läuft er zurück, aber der Kuchen ist schon nicht mehr da, so daß er wieder hinter dem Mond herrennt und am Ende gar nichts hat und ratlos zwischen dem verschwundenen Kuchen und dem unerreichbaren Mond geistert (12/9, 154). In einer anderen Episode stellt Attar uns als Wesen vor, die gleich den gefallenen Engeln Harut und Marut mit dem Kopf nach unten in eine Zisterne gehängt worden sind. Es ist schrecklich heiß, und sie dürsten so sehr, daß sie vor Sehnsucht nach einem Tropfen zu sterben meinen. Aber sie sterben nicht. Das Wasser fließt, frisch und klar, einen Fingerbreit unter ihrer ausgestreckten Zunge entlang. Weder können sie ihre Zunge noch länger strecken, noch steigt das Wasser auch nur einen Zentimeter an. Wäre ihr Durst an Zahl nur einer, so steigert ihn der Anblick, das Geräusch, der Geruch des nahen Wassers hunderttausendfach, sagt der Dichter (5/3, 97f.).
    Zeitzeugnis
    Daß die Möglichkeit des Andersseins existiert, damit wir über das Dasein verzweifeln, ist ein wiederkehrendes Motiv im 20. Jahrhundert, auch bei Hedayat, der mit Blick auf die Erzählungen Kafkas schrieb: «Ihre Bewegung zielt auf die endgültige Niederlage, und fürchterlich ist es, wie sie die Hoffnung foltern – nicht weil in ihnen die Hoffnung verurteilt würde, sondern im Gegenteil weil sie die Hoffnung nicht verurteilen können.»[ 34 ] Analytisch wie moralisch beispielhaft ist der Gedanke in Adornos Philosophie begründet, die wie keine andere die Schatten des 20. Jahrhunderts in sich aufnimmt und alle Schattierungen einer positiven Geschichtsdialektik verwirft. Man muß keinen Superlativ historischer Katastrophen bemühen, um die Vermutung zu erhärten, daß der endzeitliche Schrecken und die Verweigerung, dem Leben Sinn zuzugestehen, auch bei Attar einen überaus realen Boden hat. Es reicht, auf Attars Zeit zu schauen. «Das Buch der Leiden» muß vor dem Einfall der Mongolen in Persien entstanden sein. Die Zeichen ihres Sturmlaufs, der jahrhundertealte Reiche hinwegfegen, Städte entvölkern und wahrscheinlich auch den greisen Dichter das Leben kosten sollte, dürften bereits sichtbar gewesen sein, zumal in der nordöstlichen Provinz Chorasan, in deren damals wichtigster Stadt Attar lebte – sei es, daß Nachrichten von den heranrückenden Truppen (von 150.000 bis 200.000 Reitern gehen Wissenschaftler heute aus, jeder von ihnen mit mehreren Pferden)[ 35 ] nach Nischapur vorgedrungen waren, sei es nur, daß Attars Lebenswelt, ihr soziales, geistiges und politisches Gefüge, sich in jener Auflösung befand, die eine so rasche und umfassende Niederlage überhaupt erst erlaubt. Muslimische Historiker jedenfalls haben die mongolische Eroberung nicht als eine unter vielen Katastrophen behandelt, sondern als Strafgericht Gottes über eine dekadent gewordene, sündige Gesellschaft gedeutet, wie sie die Welt, so der große Historiograph Ibn al-Athir (gest. 1233), «seit der Erschaffung bis zu ihrem Ende nicht erlebt hat und nicht mehr erleben wird, mit Ausnahme höchstens von Gog und Magog».[ 36 ] In Attars Darstellungen hätten sie viele Belege für ihre Zeitdiagnose gefunden.
    Zwar handelt es sich bei dem «Buch der Leiden» um eine sufische Dichtung, in der noch die Anekdote eines jeden Straßenkehrers als Gleichnis für die mystische Erfahrung zu verstehen ist, aber zugleich ist es auch eine Anekdote von einem Straßenkehrer, einem Herrscher, einem verbohrten Rechtsgelehrten oder einer einfachen Mutter, wie sie zu Attars Zeit gelebt haben. Darin eben besteht ein Unterschied zu Rumis spirituellen Versen: Der Dichter Attar, der seine eigene Bodenhaftung ausdrücklich beklagt, bewegt sich nicht im luftleeren Raum des reinen Geistes; in seinen Versepen weht die schneidende Luft irdischer Verhältnisse, der sozialen und religiösen Realität. Attars Darstellung von Armut oder behördlicher Willkür, seine Wut auf die Einfalt der Theologen, sein Eintreten

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