Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
wenigstens beschäftigt sich jener mit einer richtigen Arbeit und ist ein ehrenwerter Mann, während dieser Heuchler mit dem Augenschein des Amtes nur blendet (25/5, 240).
Attar mag die Mullahs nicht. Von den Höfen sollen sie sich fernhalten, verlangt er, und gefälligst in Armut leben, beim gemeinen Volk. Ablassen sollen sie von der Bigotterie und nicht mehr die Engstirnigkeit predigen. Statt die Religion auf das Gesetz zu beschränken, mögen sie doch lieber selbst den Menschen ein Beispiel geben an Barmherzigkeit und Liebe.
Schlösser habt ihr wie die Kaiser,
Chosrou gleich wohnt ihr statt in der Armut Alis.
Gewänder habt Ihr hübscher als die Damen,
Reitet auf Pferden wie aus dem Stalle Qaruns.
Gesichter habt Ihr, verdunkelt und grimmig,
Wesen und Sitten habt ihr, teuflischer Natur.
Vermählt mit Gebräuchen, pharaonischen,
Die Sitten der Trauer von denen, die Feuer anbeten.
Eure Eigenschaften würdig des Königs Schaddad,
Größenwahn, Gier und zu gefallen der Welt.
Dies alles sind eure Merkmale und schlimmere noch,
Nur eines ist euch fremd: der Glaube Mohammeds.
Euch fesseln Brauch, Würde und Amt, ob Tag oder Nacht,
Nur von einem seid ihr frei: vom Glauben Mohammeds.
(38/7, 343)
Das liest sich nicht eben, als sei es vor neunhundert Jahren geschrieben, zumal nicht von einem Iraner. «Attars Toleranz», so bemerkte der kürzlich verstorbene Teheraner Literaturwissenschaftler Abdolhasan Zarin-Kub, «zeugt von einer Weite des Denkens, mit der er sein eigenes Jahrhundert, aber auch unser Jahrhundert überflügelt – wer könnte das heute bestreiten?»[ 42 ] Die Geschichten, die Zarin-Kub seiner eigenen Zeit, seinem eigenen Staat vorhielt, ziehen sich gleichmäßig durch alle Epen Attars. Sie machen allerdings auch zweierlei deutlich: Zum einen ist sein Einspruch zugunsten Andersgläubiger nicht zu verwechseln mit einem modernen Ideal religiöser Toleranz und nicht einmal mit dem Glaubensuniversalismus manch anderer Mystiker. Ungläubige bleiben für Attar Ungläubige, die zwar auf Erden nicht weiter belangt werden sollen, denen aber Erlösung allenfalls aufgrund göttlicher Gnade zuteil wird (und mit der knausert Gott schon bei den Muslimen). Zum zweiten zeichnet Attar das Bild einer islamischen Kultur, in der Nachsicht gegenüber Andersgläubigen gerade nicht zu den anerkannten Werten gehört. In der folgenden Episode aus den «Vogelgesprächen» werden beide Einschränkungen – daß Attars Toleranzbegriff weder modern ist noch charakteristisch für die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebte – sichtbar: Der Mystiker Abu Bakr Muhammad al-Wasiti (gest. nach 932) kommt an einem Friedhof der Juden vorbei.
– Diese Juden sind entschuldigt, aber das darf man hier nicht laut sagen.
Jemand hört Wasitis Äußerung und zerrt ihn empört zum Kadi. Von diesem zur Rede gestellt, antwortet der Scheich:
– Diese verdorbenen Leute mögen nach deinem Urteil nicht entschuldigt sein, aber nach dem Urteile Gottes sind sie es.[ 43 ]
«Verdorben», aber dennoch «entschuldigt» – das ist vom heutigen Standard des Gutmeinens so weit entfernt wie von der Glaubenseiferei nicht nur jener Tage. Auch zur Herrschaft der Rechtsgelehrten hätte Attar wohl etwas zu sagen gehabt: Für ihn gehören Staat und Religion – im «Buch der Leiden» stellt er das noch deutlicher als in seinen anderen Epen heraus – nicht zusammen: «Die Höfe sind kein Ort, Fatwas zu erstellen.» (23/14, 228)
– Passen wohl zwei Schwerter in eine Scheide? fragt ein Narr den Wesir Nezamolmolk: Du hast die Herrschaft dieser Welt, die Religion brauchst du nicht. Willst du sie aber doch, dann brüste dich nicht mit der Welt. Beide zusammen, das geht nicht gut, hüte dich davor. (9/6, 130)
Ethos und Glaubensmaxime
Auf wen sollen die Gläubigen hören, wenn nicht auf die Theologen? Auf die Überlieferung, gewiß – und auf sich selbst. Es dürfte für einen Dichter des 12., 13. Jahrhundert durchaus bemerkenswert, vielleicht sogar einzigartig sein, wie entschieden er die Verantwortung des Individuums betont, die Wirklichkeit des Schöpfers eigenständig zu erfahren und Seine Gebote nicht blind, sondern aufgrund eigenen Wollens zu befolgen. Auch das macht Attar, der vielen iranischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts veraltet schien,
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