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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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Bruder die Straße entlanglaufen sah, winkte er ihnen schon von weitem zu.
    »Ihr kommt spät!«, rief er.
    »Tut mir leid!« Yoba schnappte atemlos nach Luft. »Aber wir konnten nicht eher. Wir waren frühstücken.«
    »Das ist gut«, freute sich Anthony. »Was gab’s denn?«
    »Onugbo-Suppe«, platzte es aus Chioke heraus und er streichelte seinen gefüllten Bauch.
    »Er redet ja doch!« Der weißhaarige Greis kniff Yobas kleinen Bruder in die Wange. »Ich habe dir ja gesagt: Wenn du fest daran glaubst, kannst du den Fluch besiegen. Irgendwann wirst du wieder sprechen können. So wie dein Bruder.«
    Dass Yoba und Chioke seit ihrer Ankunft in der Stadt nicht verhungert waren, lag vor allem an Anthony. Der alte Mann hatte sie beim Aufbrechen eines Autos erwischt und wider Erwarten nicht die Polizei gerufen oder einfach Selbstjustiz geübt. Vielmehr hatte er den hungernden Brüdern ein Angebotunterbreitet: Wenn sie ihm bei seinen Pflichten zur Hand gingen, würde er ihnen im Gegenzug erlauben auf »seinem« Parkplatz einen Autowaschservice anzubieten. Yoba hatte natürlich sofort eingeschlagen. Seither konnten die Angestellten ihr Auto während der Arbeitszeit für ein bisschen Kleingeld putzen lassen.
    Anthony schmunzelte. »Für euer Geschäft sehe ich allerdings schwarz«, sagte er zu Yoba. Er wies auf den restlos belegten Parkplatz. »Ihr seid zu spät. Die Weißen sitzen bereits alle in ihren Büros.«
    »Dann warten wir eben auf die Langschläfer«, meinte Yoba gut gelaunt. »Wer weiß, was noch passiert. Heute ist nämlich unser Glückstag. Das spüre ich in meinem großen Zeh!«
    Anthony lachte. Es hörte sich an wie das Krächzen eines sterbenden Hahns. »Da könntest du sogar Recht haben. Siehst du den Mercedes dort?«
    »Den schwarzen da?«, fragte Yoba sofort.
    Anthony nickte ehrfurchtsvoll. »Das ist der neue Wagen vom Direktor. Er hat mich gebeten ihn putzen zu lassen. Und dafür hat er mir das hier gegeben!«
    Anthony winkte mit fünf druckfrischen Dollarscheinen. Als Yoba mit leuchtenden Augen danach greifen wollte, ließ der zahnlose Greis sie mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit verschwinden. »Erst die Arbeit, dann der Lohn, junger Mann!«, schmunzelte er.
    Yoba eilte in den Pförtnerverschlag, zog den Eimer hinter einem Haufen Gerümpel hervor und füllte ihn an dem rostigen Wasserhahn. Anthonys Reich bestand nur aus einem einzigen Raum, dennoch verfügte es über fließendes Wasser. Der alte Parkplatzwächter kannte Gott und die Welt, und einemseiner vielen Bekannten war es gelungen, eine in der Nähe verlaufende Wasserleitung anzuzapfen. Jetzt drehte man einfach den quietschenden Hahn auf und das Wasser floss heraus. Meistens zumindest. Trotzdem staunte Yoba jedes Mal aufs Neue. Bei ihm zu Hause im Dorf konnten sich nicht einmal die wohlhabenden Familien solch einen Luxus leisten. Da gab es einen Brunnen für alle.
    Yoba drehte den Wasserhahn wieder zu. Er zog einen Stofffetzen unter dem Waschbecken hervor, der einmal ein Hemd gewesen sein musste, und schleppte den schwappenden Eimer nach draußen.
    »Macht bloß keine Kratzer in den Lack!«, ermahnte ihn Anthony besorgt. »Sonst verliere ich meine Arbeit. Und dann habt ihr auch keine mehr, vergesst das nicht!«
    »Keine Sorge, Großvater! Wir sind Profis!« Yoba zwinkerte seinem Bruder zu. »Stimmt’s?«
    »Profis!«, nickte Chioke.
    Dann trottete er Yoba mit dem gebührenden Ernst hinterher. Die nagelneue Mercedes-Limousine stand auf dem Direktorenparkplatz neben dem gläsernen Firmenportal. Noch nie hatte Yoba ein so vollkommenes Auto gesehen. Ehrfürchtig strich er über den schwarzen, staubbedeckten Lack des Kotflügels. Wo derart perfekte Maschinen gebaut wurden, mussten auch die Menschen perfekt sein. Daran bestand für Yoba nicht der geringste Zweifel. Er linste durch die getönten Scheiben in das Innere des Wagens. Bestimmt besaß sein Onkel Abeche in Europa nicht nur ein Haus aus Steinen, sondern auch so ein kostbares Auto.

4.
    »Und du bist dir wirklich sicher?« Big Eagle schnellte mit katzenhafter Geschmeidigkeit aus seinem überdimensionalen Korbsessel und ging wütend vor seinem Schreibtisch auf und ab. Die gelb-braun getüpfelte Hyäne, die sich vor dem Mahagonitisch auf einem Antilopenfell rekelte, spitzte die Ohren und kaute unruhig auf ihrem locker sitzenden Maulkorb herum. Hyänen galten in Nigerias Gangsterkreisen neuerdings als der letzte Schrei. Sie waren nicht nur weitaus kräftiger als ein Kampfhund und mindestens

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