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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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darauf auf!«
    Yoba hielt seinem Bruder das eingewickelte Tagebuch vor die Nase. Chioke presste seine Wange auf das schwankendeBrett und starrte ihn mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an. Sein Gesicht war nur eine Handbreit entfernt. Zuerst zeigte er keine Reaktion, dann tastete er vorsichtig mit einer Hand über das nasse Holz. Als sich seine Finger um das Büchlein schlossen, war Yoba erleichtert.
    »Versprich mir … dass du gesund wirst … und lesen lernst!«, keuchte er. Er hatte einfach keine Kraft mehr. »Und … vergiss mich nicht … okay?«
    Dann stieß Yoba das Brett mit seinem gesunden Arm, so weit er konnte, von sich weg. Er wusste, dass er sterben musste, und er wollte nicht, dass sein Bruder ihm dabei zusah. Chioke musste es einfach schaffen. Er hatte schon genug durchgemacht.
    Der Abstand vergrößerte sich rasch und bald verschwand sein Bruder hinter einem Wellenkamm. Kurz darauf tauchte er ein Stück weiter entfernt zwischen den Wasserbergen wieder auf. Er schien etwas zu rufen, aber Yoba verstand ihn nicht. Das Brüllen des Sturms übertönte jeden Laut. Dann war Chioke endgültig verschwunden.
    Yoba trieb alleine in den Wellen. Das Strampeln und das ständige Auf und Ab machten ihn müde. Sein ganzes kurzes Leben hatte er kämpfen müssen. Gegen die Angst, gegen den Hunger. Jetzt war es genug. Yoba schloss die Augen und ließ sich in die Tiefe sinken. Unter der Wasseroberfläche war es wunderbar still und friedlich. Kein Sturm mehr und keine verzweifelten Schreie. Stattdessen erfüllte ihn eine merkwürdige Leichtigkeit. Vor seinem inneren Auge erschien ein grüner Rasen, ein Garten vielleicht. Kinder lachten und Anthony, der Parkplatzwächter, schnitt bunte Blumen. Er trug eine mit funkelnden Orden bestückte Uniform und Yobas Mutter beaufsichtigte ihn mit strengem Blick. Chi-Chi hielt ihre Hand und redete aufgeregt auf sie ein. Yoba lächelte. Alle waren so fröhlich, keiner hatte Angst. Auch Adaeke war da. Sie streckte ihm lächelnd ihre Arme entgegen. Wie schön sie doch ist, dachte Yoba ein letztes Mal. Wie unglaublich schön.

45.
    Julian wartete auf dem Flur der Krankenstation und kaute ungeduldig auf seinen Fingernägeln. Wie im gesamten Flüchtlingslager war es auch hier hoffnungslos überfüllt. Die Türen zu den Krankenzimmern standen weit offen und überall auf den Gängen lagen und saßen Patienten herum. Ein paar Schritte zu seiner Linken wurde Karten gespielt und zu seiner Rechten betete eine zierliche Gestalt kniend auf ihrem Gebetsteppich. Bis auf das italienische Ärzte- und Pflegepersonal, das gelegentlich mit wehenden Kitteln über die Flure huschte, war Julian der einzige Europäer. Unter den vielen Afrikanern fühlte er sich mit seinen dunkelblonden Haaren und seiner weißen Haut wie ein Alien.
    Endlich öffnete sich die Tür zum Arztzimmer und Adria kam heraus.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Julian sofort. Adrias plötzlicher Schwächeanfall hatte ihm einen Riesenschreck eingejagt.
    »Wird schon wieder.« Adria lächelte ein wenig kraftlos. »Die Ärztin meint, ich hätte mir auf der Fähre vielleicht einen Sonnenstich geholt. Auf jeden Fall soll ich viel trinken und mich ins Bett legen. Hast du den Jungen gefunden?«
    »Noch nicht«, erwiderte Julian. »Luigi und ich waren bei seinem Verwandten in der Kleiderkammer, aber der hat keinen Jugendlichen in meinem Alter gesehen. Er meint, die Minderjährigen sind in dem Frauenlager.«
    »Und wo ist Luigi jetzt?«
    »Der wartet bei seinem Taxi auf uns.«
    Adria blieb stehen und sah Julian in die Augen. »Und wie soll es nun weitergehen?«
    Julian ballte die Faust um Adrias Handy: »Die Fotos geben wirdiesem Journalisten von der Fähre. Seine Kamera haben sie ihm ja abgenommen. Danach fahren wir zurück zum Festland. Ich schätze, meine Eltern sind bereits am Rande des Nervenzusammenbruchs. Hoffentlich steht das Palm Beach Resort noch!«
    »Und was ist mit uns? Hast du das vorhin auf der Fähre ernst gemeint? Ich meine, dass wir uns mal wiedersehen?« Adria zupfte verlegen an Julians T-Shirt.
    »Natürlich! Hast du etwa gedacht, das zwischen uns wäre nur ein unverbindlicher Urlaubsflirt? Ich könnte dich doch mal in Köln besuchen. Der Kölner Dom hat mich schon immer interessiert!«, erwiderte Julian und küsste sie.
    Sie hatten sich gerade wieder voneinander gelöst, als eine Krankenschwester an ihnen vorbeiging. In ihrer ausgestreckten Hand trug sie ein verdrecktes und zerfetztes Stück Stoff. Es handelte sich

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