Der Schrei des Löwen
immer die beste Köchin auf Lampedusa!«
Die beiden Männer umarmten sich überschwänglich.
»Bekommt ihr etwa Nachschub?« Luigi wedelte mit dem Daumen in Richtung des gerade gelandeten Flugzeugs.
»Es ist Sommer«, seufzte sein Schwager. »Wir haben Hochsaison. Gestern hat die Küstenwache ein neues Boot aufgebracht. Die armen Schweine müssen tagelang auf dem Meer herumgeirrtsein. Sie hatten nicht mal einen Kapitän an Bord. Einer der Flüchtlinge hat das Ruder übernommen.«
»Ohne Kapitän?«
»Kaum zu fassen, oder?« Der Offizier wirkte betrübt. »Da hinten kommen schon die Busse! Hoffentlich sind es nicht wieder hundert auf einmal. Es ist unglaublich, wie viele Menschen die Schleuser auf einen einzigen morschen Kutter packen!«
43.
Zwei Reisebusse hielten vor dem grün gestrichenen Tor, unmittelbar neben dem englischen Schild, auf dem zu lesen war: »Lager zur Identifikation und Abschiebung«. Durch die leicht getönten Scheiben der fabrikneuen Busse konnte Julian viele dunkelhäutige Menschen erkennen. Die Schiffbrüchigen pressten ihre erschöpften Gesichter neugierig an die Scheibe. In den Mienen der jungen Afrikaner spiegelte sich die Erleichterung über ihre Rettung, aber auch die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Mit einem Zischen öffnete sich die Bustür und einer der Fahrer schlenderte mit einem Klemmbrett unter dem Arm gemächlich in Richtung Pförtnerhäuschen.
»Das nimmt einfach kein Ende!«, stöhnte Luigis Schwager. »Tut mir leid, alter Freund. So wie es aussieht, muss ich mich mal wieder um den Papierkram kümmern.« Er wandte sich zum Gehen, blieb dann aber plötzlich wie angewurzelt stehen: »Was zum Teufel macht der denn hier!«
Helmut Lehner, der Journalist, den Julian und Adria auf der Autofähre kennengelernt hatten, schlich um die Busse herumund fotografierte sie von allen Seiten. Erst jetzt registrierte Julian den Motorroller neben dem geparkten Taxi.
Luigis Schwager stieß einen Pfiff aus und zwei Carabinieri in schwarzen Uniformen eilten herbei. Die Militärpolizisten wussten sofort, was zu tun war. Ohne zu zögern, entrissen sie Lehner die Kamera, wobei sie ziemlich grob zu Werke gingen. Lehner protestierte lautstark auf Englisch, berief sich auf die Pressefreiheit und alle möglichen Menschenrechtsartikel, aber es nutzte nichts. Wahrscheinlich verstanden die Militärpolizisten nicht einmal, was er sagte.
»Warum lässt du ihn nicht die Fotos machen?«, fragte Luigi seinen Schwager, während sie das Gerangel beobachteten. »Du willst doch auch, dass das hier aufhört. So wie alle hier auf der Insel.«
»Ich habe meine Befehle«, erwiderte der Offizier ausweichend. »Wer sind die da überhaupt?« Damit meinte er Adria und Julian.
»Ach, die gehören zu mir! Sag, hat Alessandro heute Dienst?«
»Ich denke, schon.« Luigis Schwager legte gut gelaunt den Arm um ihn. »Mir nach! Ich bringe euch rein!«
Julian und Adria hefteten sich an die Fersen der beiden Männer und folgten den Bussen durch das geöffnete Tor. Als sie das Gelände betraten, trauten sie ihren Augen nicht. Es war, als befänden sie sich plötzlich mitten in Afrika. Der asphaltierte, von niedrigen Gebäuden mit roten Dächern umgebene Platz war voller dunkelhäutiger Menschen. Aus den offenen Fenstern hing Wäsche zum Trocknen heraus und ein paar junge Männer kickten in der prallen Sonne einen Ball gegen den hohen Drahtzaun. Andere standen rauchend herum und schienen sich einfach nur zulangweilen. Auch auf den Balkonen der barackenähnlichen, einstöckigen Gebäude drängten sich die Menschen. Sie lehnten am Geländer und beobachteten das Treiben auf dem Platz mit unbeteiligten Mienen. Über dem ganzen Areal lag eine Wolke aus Kerosin. Man konnte kaum atmen und in jeder Ecke der Sicherheitszäune türmten sich Berge von prall gefüllten Müllsäcken.
Als die Neuankömmlinge aus den Bussen stiegen, wurden sie von den Umstehenden mit Fragen bombardiert. Es entstand ein Tumult und sofort waren die Carabinieri da. Sie gingen dazwischen und trieben die Menge wie bei einer Demonstration auseinander.
»Vor ein paar Monaten hat es hier einen Aufstand gegeben«, erklärte Luigi. »Über tausend Illegale sind ausgebrochen und zum Rathaus marschiert, um für bessere Bedingungen zu kämpfen. Die Inselbewohner haben sich ihnen sogar angeschlossen, aber genutzt hat es trotzdem nichts.«
Adria fühlte sich sichtlich unwohl. Sie ließ Julians Hand keine Sekunde mehr los. »Hier drin ist es voller als in einer
Weitere Kostenlose Bücher