Der Schrei des Löwen
Ruderhaus. Er kletterte auf das Dach und spähte über die Köpfe der zusammengepferchten Menschen hinweg in den Himmel. Dann kehrte er zurück und sprach aufgeregt mit dem Kapitän.
»Der Himmel steh uns bei!«, stieß Babatunde einige Minuten später plötzlich hervor und ihre Köpfe fuhren herum: Hinter dem Boot erhob sich eine gigantische, schwarze Wand aus Wasser, die unaufhaltsam schnell näher kam. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne, es fing an zu regnen und wurde schlagartig kälter. Gleichzeitig hörte der Wind auf und für einen Moment war es bis auf das Tuckern des Bootsmotors ganz still. Dann brach die Hölle los.
Eine Orkanböe riss das überladene Boot herum und legte es quer zu den sich auftürmenden Wellen. Haushohe Brecher überfluteten den Kutter und rissen die ersten Menschen mit sich. Eine Frau schrie und mit Entsetzen beobachtete Yoba, wie ein Mann nur wenige Meter entfernt hilflos in den Wellen trieb und hinter einer Wand aus Regen und Gischt verschwand. Chioke schrie um sein Leben. Yoba umschlang ihn so fest mit den Armen, wie er nur konnte. Gleichzeitig stemmte er seine Füße verzweifelt gegen den Boden und drückte sich gegen die Bordwand, um mehr Halt zu bekommen. Er brüllte Babatunde etwas zu, aber der Wind und das Trommeln des Regens waren so laut, dass er nicht mal seine eigene Stimme hören konnte. Sunday und Maurice krallten sich gemeinsaman eine hölzerne Netzrolle und ihre Körper schlugen mit jeder Schlingerbewegung hart gegen die Außenwand. Dann war Babatunde plötzlich weg. Eine Welle musste ihn über Bord gespült haben. Yoba schrie seinen Namen, doch es war vergebens.
Als ein weiterer Brecher den Motor des Bootes unter Wasser setzte, trieben sie endgültig manövrierunfähig in den Wellenbergen. Yoba stemmte sich weiter mit den Füßen gegen das Holz des alten Kutters und hielt seinen Bruder mit beiden Armen fest umklammert. Immer wieder brach ein Wasserschwall über sie herein, so dass sie kaum Luft holen konnten. Den Menschen an Deck versagten zunehmend die Kräfte. Viele konnten sich nicht länger festhalten und verschwanden mit einem lautlosen Schrei auf den Lippen in den tosenden Fluten. Gleichzeitig spürte Yoba, wie das gesamte Boot von einer gewaltigen Welle emporgehoben wurde. Mit einem Knall brachen Holzplanken und Spanten barsten. Das schwere Boot stieg höher und höher. Dann verharrte es für einen kurzen Moment regungslos in der Luft, kippte wie in Zeitlupe nach vorne und rauschte mit dem Bug voraus in einen schwarzen Abgrund.
Das eiskalte Wasser raubte Yoba die Sinne. Instinktiv hielt er die Luft an und umklammerte seinen panisch strampelnden Bruder. Dann traf ihn etwas Schweres in die Seite und Yoba spürte, wie sein Arm brach. Chi-Chi drohte seinem Griff zu entgleiten. Yoba biss auf die Zähne, aber der Schmerz war schier unerträglich. Er konnte seinen kleinen Bruder nicht länger festhalten.
Als das leckgeschlagene Boot wieder aus dem Wasser auftauchte, schwamm Chioke im Meer. Er hüpfte wie ein Korken auf den Wellen auf und ab und entfernte sich immer weiter. Yoba zögerte nicht einen Moment und stürzte sich mit seinem gebrochenen Arm in die Fluten. Halb wahnsinnig vor Schmerzen versuchte er seinen Bruder zu erreichen. Chioke hatte sich mittlerweile aus eigener Kraft auf ein großes Holzbrett gerettet, das ursprünglich zum Dach des Ruderhauses gehört hatte.
Mit letzter Kraft erreichte Yoba seinen Bruder und grub seine gesunde Hand in das glitschige Holz. Es bot kaum Halt, und sich mit dem Oberkörper auf das Brett schieben konnte er nicht, denn sonst wäre sein Bruder unweigerlich ins Wasser gerutscht. Das Brett bot nur Platz für einen und Chioke war der Leichtere von ihnen.
»Gib mir deine Hand!«, schrie Yoba ihm durch den Regen zu. Chioke lag flach auf dem Bauch und krallte sich an dem Brett fest. Nur zögernd löste er eine Hand. Yoba griff sofort danach, denn er konnte sich kaum noch über Wasser halten. Bei der geringsten Bewegung durchzuckte ein gellender Schmerz seinen gebrochenen Arm.
Einen Augenblick lang hielt sich Yoba an Chiokes Hand fest und holte Atem. Dann ließ er wieder los und tastete mit seiner gesunden Hand nach seinem Tagebuch. Die Anstrengung ließ ihn beinahe untergehen, aber am Ende gelang es ihm, das eingepackte Büchlein unter Wasser aus seiner Hose zu fischen. Völlig entkräftet paddelte er zurück zu seinem Bruder.
»Das ist für dich!«, prustete er und das Meerwasser schwappte ihm ins Gesicht. »Pa… Pass gut
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