0575 - Vampir-Gespenster
War es furchtbar, war es grausam, gehörte es überhaupt einem Menschen? Ihm kam es vor wie ein Spukbild.
Ein bleiches Gesicht, das sich unter den nachtschwarzen Haaren abzeichnete. Ein breiter Mund, düstere Augen, in deren Pupillen Sternenglanz gefangen zu sein schien. Das Lächeln auf den Lippen versprach Tod und Verderben.
Der Fremde hatte sich über Richard gebeugt, der nach einem kräftigen Faustschlag wieder auf dem Rücken lag. Gefährlich nah wanderte das Gesicht auf ihn zu. Die Lippen blieben verzogen, gaben keine Zähne frei. Es war ein herausforderndes und auch abschätzendes Grinsen, das der andere zeigte.
»Wer bist du?« Richard hatte sich wieder gefangen. Ohne daß der Eindringling es merkte, streckte Richard den rechten Arm aus. Sehr vorsichtig machte er ihn unter der Decke lang. Wenn der andere etwas merkte, konnte alles zu spät sein.
»Ich will dich!«
Mit dieser Antwort hatte Richard nicht gerechnet. Wenn der andere Geld und Güter hätte haben wollen, okay – aber ihn? Seine Hand berührte bereits den kalten Griff der Klinge. Es war gut, dieses Material zu spüren. Richard hatte sich schon oft in seinem Leben auf das Messer verlassen müssen.
»Wer bist du?«
»Jemand, der es gut meint. Aber vorher will ich dich haben, begreifst du das?«
Richard ließ sich Zeit mit der Antwort. Er war ein kräftiger Mann von knapp vierzig Jahren. Sein ehemals dunkles Haar war im Laufe der Zeit grau geworden. Wie Putzwolle wuchs es auf seinem Kopf.
Nein, er begriff es nicht oder kaum, das mußte ihm der Kerl näher erklären. Normalerweise hätte er dem anderen schon Zunder gegeben, in diesem besonderen Fall jedoch hielt ihn irgend etwas davon ab.
Er konnte selbst nicht genau sagen, was es eigentlich war – ein Gefühl, eine Warnung und ein Hauch, der ihn berührte.
Er roch ihn sogar…
Von außen her drang er nicht in den Wagen. Der Wind brachte in dieser Gegend Frische mit, aber nicht den Geruch von Tod und Verwesung. Genauso stank der Mann, als hätte er die letzten Nächte auf einem Friedhof unter allmählich verwesenden Toten verbracht.
»Hau wieder ab, Mann!«
Der Fremde schüttelte den Kopf. Zugleich fuhr der Wagen in eine Mulde hinein und wurde an der anderen Seite wieder hinausgeschleudert. Er schüttelte beide Männer durch.
Richard nutzte die Gelegenheit, um das Messer aus der glatten Lederscheide zu ziehen.
Jetzt hielt er es in der Hand und kantete es unter der Decke vorsichtig hoch. Noch einmal wollte er den Kerl warnen. Wenn er dann nicht verschwand, war es aus mit ihm.
»Du sollst abhauen!«
»Nein, wir bleiben von nun an zusammen. Ich, die Frau und auch du!«
»So?« Diesmal lächelte Richard. Er schaute gegen die obere Plane, wo sie sich in mehreren Halbbögen über das Gestänge ausbreitete.
Der Kerl sollte nur nicht erkennen, was er vorhatte.
»Ja, wir bleiben zusammen!«
»Da bin ich aber anderer Meinung!« erklärte Richard und stieß blitzschnell zu.
Die Decke bildete für die beidseitig scharfe Klinge kein Hindernis.
Auch nicht die dunkle Kleidung des Fremden.
Die Klinge war völlig verschwunden. Richard konnte es erkennen, weil er über die Decke hinwegschaute. Jetzt mußte es passieren, jetzt mußte Blut fließen, der Kerl würde wanken, dabei ächzen, zur Seite fallen, um tot zu sein.
Nichts davon trat ein!
Er blieb in dieser vorgebeugten Haltung und starrte den liegenden Richard nur an.
Der verstand die Welt nicht mehr. Er hatte den schweißfeuchten Griff des Messers losgelassen.
»Du…«, ächzte er, »du …«
Der Mann über ihm grinste nur.
Inzwischen schaukelte der Wagen weiter. Er schwankte über den unebenen Weg, kippte mal nach rechts, dann zur anderen Seite hin, aber er bekam nie das Übergewicht.
»Warum bist du nicht tot?« flüsterte Richard. »Warum?« brüllte er laut und wie irre.
Im gleichen Augenblick wieherten die schwarzen Pferde. Die Frau auf dem Kutschbock hörte nichts von dem Schrei. Sie war froh, daß sie bereits das Ende der Anhöhe erkennen konnte.
Der Fremde bewegte die Arme. Er brachte die Hände in die Nähe des Messers und umklammerte den Griff.
Dann riß er die Waffe mit einem Ruck aus seinem Körper. Die Wunde wurde von der Kleidung verdeckt. Richard sah kein Blut, das eigentlich hätte aus der Wunde strömen müssen.
Nur der dünne Strahl einer hellen, sirupartigen Flüssigkeit sickerte hervor.
Er bringt dich um! dachte Richard. Jetzt jagt er dir die Klinge in den Leib, dann bist du tot.
Das tat der Fremde nicht.
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