Der Schuldige: Roman (German Edition)
Kind. Ich weiß immer noch nicht, wie ich ihn zustande gebracht habe.«
Charlotte wischte sich die Hände an ihrer Hose ab und lief die Treppe hinauf. Daniel folgte ihr. Er hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, als es erst ins Erdgeschoss und dann noch mal ein Stockwerk höher ging.
Auf der ersten Etage drückte Charlotte auf die Messingklinke und öffnete die Tür zu Sebastians Zimmer. Daniel spürte eine Hemmung, einfach so einzutreten, aber Charlotte winkte ihn herein.
Das Zimmer war klein. Daniel bemerkte die Spiderman-Tagesdecke und die himmelblauen Wände. Es wirkte stiller als die Küche und war dunkler, weil das Fenster nach Norden wies. Hier herrschte eine private Sphäre, und Daniel hatte das Gefühl, er breche in sie ein.
»Schauen Sie sich das Bild hier an«, sagte Charlotte und zeigte auf eine Kohlezeichnung, die an die Wand gepinnt war. Daniel sah eine alte Frau mit einer Hakennase. Die Kohle war an manchen Stellen verwischt, und der Blick der Frau schien eine Warnung auszudrücken. »Vielleicht erkennen Sie, dass ich das bin. Er hat es für mich zu Weihnachten gezeichnet. Einer unserer Künstlerfreunde sagt, es zeigt eine recht frühreife Begabung. Ich glaube, an Ähnlichkeit ist nicht viel da, aber offenbar verrät es einen eigenen Charakter …«
Daniel nickte. Auf dem Bett waren Stofftiere aufgereiht. Charlotte bückte sich und hob Sebastians Schulranzen auf, zog Kladden heraus und blätterte sie durch zu Seiten, auf denen der Junge gelobt worden war, ehe sie sie Daniel herüberschob. Er warf einen Blick auf die Seiten, dann legte er die Kladden auf die Kommode.
Charlotte bückte sich, um ein paar Buntstifte aufzuheben, die über den Boden verstreut waren. Während Daniel sie beobachtete, bemerkte er, wie ordentlich Sebastians Hausschuhe ans Bett gestellt waren und wie er seine Bücher übereinandergestapelt hatte – die größten unten und die kleinsten oben.
»Er ist ein außergewöhnlicher Junge«, sagte Charlotte. »In Mathematik macht er fast nie Fehler, und er spielt bereits sehr gut Klavier. Nur seine Finger sind noch zu klein.«
Daniel holte tief Luft, während er sich an seine eigene Kindheit erinnerte und daran, wie ihm das Klavierspiel beigebracht worden war. Er erinnerte sich an die fast schmerzhafte Dehnung seiner kleinen jungen Hände, um die richtigen Töne zu finden.
Als Charlotte sich schließlich in der Diele zum Weggehen bereit machte, benötigte sie einige Zeit, um sich ein Seidentuch um den Hals zu binden. Wieder bemerkte Daniel, wie zerbrechlich sie wirkte. Er sah, wie die Wirbel ihres Rückgrats hervortraten, als sie sich nach ihrer Handtasche bückte.
Er dachte an Sebastian, der in der Zelle auf Charlotte wartete. Wieder wurde er an seine eigene Mutter erinnert: Er sah sich, wie er in Sozialstationen und Polizeirevieren auf sie wartete und sich fragte, wann sie wohl käme. Erst als Erwachsener hatte er alle Bitternis dieser Jahre überwunden. Als Kind war er dankbar gewesen, dass sie überhaupt kam.
Sie gingen an der Rückseite des Barnard Parks entlang zu Fuß zum Polizeirevier Islington. Es war ein offener Teil des Parks mit Wegen und einem Fußballplatz. Die einzige Stelle, wo eine Gewalttat verborgen werden konnte, war der von Büschen und Bäumen gesäumte Abenteuerspielplatz an der Copenhagen Street. Daniel wusste, dass die Polizei bereits von der Islingtoner Gemeindeverwaltung Aufnahmen der Videoüberwachung erhalten hatte. Er fragte sich, was wohl darauf zu sehen wäre. An der Ecke der Copenhagen Street, direkt hinter den Einsatzwagen, waren zu Bens Ehren Blumen abgelegt worden. Auf dem Herweg zu den Crolls war Daniel hier stehen geblieben und hatte einige der Botschaften gelesen.
Die Wärme und Helligkeit des Morgens war aus dem Vernehmungszimmer ausgeschlossen. Sebastian saß an der Stirnseite des Tischs und Daniel und seine Mutter den Polizeibeam ten gegenüber. Sergeant Turner wurde dieses Mal von Hauptwachtmeister Brown begleitet, einem mageren, hoffnungsvollen Mann, dessen Knie gegen den Schreibtisch schlugen, wenn er sich bewegte. Daniel wusste, dass irgendwo ein ganzer Raum voller Polizisten der Unterhaltung lauschte. Das Verhör wurde auf Video aufgezeichnet und von einem anderen Zimmer aus verfolgt.
»Okay, Sebastian«, sagte Sergeant Turner, »was meinst du, um welche Uhrzeit du Ben draußen auf seinem Fahrrad hast herumgondeln sehen.«
»Ich weiß nicht.«
»Kannst du dich erinnern, ob es vor oder nach dem Mittagessen war?«
»Es war
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