Der Schuldige: Roman (German Edition)
würde; an die Drogen, mit denen er zu tun bekäme, an die Freundschaften, die er schließen und wieder zu verlieren lernen würde; an die Entfremdung von der Gesellschaft und von der Zukunft selbst, die er empfinden würde. Die Zukunft würde stets irgendeine Art von Einkerkerung in sich schließen.
Die Sprecherin der Geschworenen hob den Blick zu dem Justizangestellten, der das Wort an sie gerichtet hatte.
Sebastian atmete aus und ließ gleichzeitig seine Hand in Daniels gleiten. Daniel strich mit dem Daumen über den Handrücken des Jungen, wie es Minnie getan hätte. Daniel erinnerte sich, wie rau ihr Daumen sich auf seiner jungen Haut angefühlt hatte. Es war ein instinktives Gefühl der Sorge, und letzten Endes hatte sie ihn gelehrt, sich zu sorgen.
Irene saß kerzengerade da. Daniel hätte am liebsten auch ihre Hand ergriffen.
»Nicht schuldig.«
»Und ist dieser Spruch einstimmig gefasst worden?«
»Ja.«
Es gab keine Begeisterungsschreie. Der Gerichtssaal schwirrte wie unter Schock. Nach einer tiefen Stille ertönten die Stimmen, gedämpft und eindringlich wie eine Welle, die sich am Ufer bricht. Erstickte Schluchzer erhoben sich von der Familie des Opfers, wütende Stimmen des Protests.
Baron brachte den Gerichtssaal zum Schweigen. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass dies hier kein Fußballstadion ist.«
»Was heißt das?«, fragte Sebastian, als die Geschworenen entlassen worden waren, der Richter gegangen war und die Galerie sich leerte. Er hielt sich noch immer an Daniels Hand fest.
»Es heißt, du kannst zu uns nach Hause kommen, Liebling«, sagte Charlotte, die ihren Sohn zu sich herumdrehte. Ihre Lider zitterten, als sie über ihren großen Augen nach oben klappten. Sebastian lehnte sich, müde und gertengleich, gegen seine Mutter. Sie umschlang ihn und verwuschelte ihm die Haare.
Der Gerichtssaal leerte sich allmählich. Daniel folgte Irene und Mark hinaus in die große Halle vom Old Bailey.
Als er auf den Ausgang zuging, fühlte er, wie eine starke Hand ihn an der Schulter packte und herumdrehte. Ehe er ein Wort sagen konnte, schüttelte ihm Kenneth King Croll die Hand und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Dann griff er nach Marks Hand und schüttelte sie, um sodann Irene bei den Schultern zu ergreifen und leicht zu schütteln und ihr einen Kuss auf beide Wangen zu drücken.
Aus Kenneths Zugriff befreit, drehte Irene sich zu Daniel um und lächelte. Daniel hätte sie am liebsten umarmt, fühlte sich aber gehemmt, weil ihre Mandanten dabeistanden.
»Wo gehst du jetzt hin?«, fragte Daniel, sah sie an und versuchte, in ihre Augen zu blicken.
»In die Kanzlei, nehme ich an. Ich weiß nicht. Ich bin kaputt. Fahre vielleicht nach Hause. Und du? Musst dich wohl mit der Großen Britischen Presse treffen.«
»Um die Suppe auszulöffeln.«
»Soll ich denn auf dich warten?«, fragte sie.
»Ja, und dann können wir einen trinken gehen oder so. Es könnte ein bisschen dauern. Ich mach so schnell ich kann.«
Daniel ging zurück in Richtung des Gerichtssaals und sah Ben Stokes’ Eltern mit dem Familienvertrauensmann herauskommen. Er fühlte plötzliches Mitgefühl in sich hochwallen. Paul hielt Madeline bei den Schultern. Er schien sie fast zu tragen. Ihre Füße bewegten sich in kleinen Schritten, den Kopf hatte sie gesenkt, und das Haar fiel ihr über das Gesicht. Kurz bevor sie bei Daniel ankam, schob sie ihr Haar zurück, und Daniel sah ihre roten Augen, die wunde Nase und die eingefallenen Wangen. Einen Moment lang blitzten ihre Augen auf, und sie riss sich von ihrem Mann los. Daniel wich zurück in der Annahme, dass sie ihn angreifen wollte. Aber Charlotte war es, auf die Madeline losging. Das riesige Foyer hallte von Madelines Schreien wider, während sie ihre Hände – die Finger wie Klauen – nach Charlottes Schultern ausstreckte.
»Er ist ein Ungeheuer!« , schrie Madeline Stokes. »Er hat meinen kleinen Jungen umgebracht …!«
Daniel war drauf und dran, den Wachschutz zu rufen, aber Paul Stokes zog seine Frau zur Seite. Als sie vorbeiging, war sie wieder teilnahmslos und ließ es zu, dass ihr Mann sie wegführte.
»Alles in Ordnung, Charlotte?«, fragte Daniel.
Charlotte hatte ihre Handtasche aufgemacht, in der sie hektisch nach etwas suchte. Gegenstände fielen heraus: eine Haarbürste, ein Schminkspiegel, Eyeliner und Kugelschreiber. Daniel bückte sich und half ihr, die Sachen aufzuheben.
»Ich brauche, ich brauche …«, sagte sie.
»Um Gottes willen, Frau,
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