Der Schuldige: Roman (German Edition)
zögerte er einen Moment.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, hob ihre dick geschminkten Lider und senkte sie wieder. »Wird das hier lange dauern? Ich müsste mal kurz nach draußen, um Sebs Vater anzurufen und ihm zu sagen, dass Sie da sind. Er ist in Hongkong, aber er bat, ihn auf dem Laufenden zu halten. Ich werde mal gleich rasch nach Hause laufen. Man hat mir gesagt, ich könnte Seb ein paar Kleider bringen, bevor sie mit dem Verhör weitermachen. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie ihm alle seine Kleider weggenommen haben. Sie haben sogar eine DNA -Probe genommen – ich meine, ich war nicht mal hier …«
Die Luft war erfüllt vom Geruch des nassen Leders seiner Aktentasche und dem schweren Duft von Charlottes Parfüm. Sebastian rieb sich die Hände und saß aufrecht da, als habe ihn Daniels Anwesenheit seltsam erregt. Er zog eine von Daniels Visitenkarten aus deren Schlitz in dem Aktendeckel und lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten, um sie zu bewundern.
»Eine schöne Karte. Sind Sie Teilhaber?«
»Ja.«
»Da werden Sie mich also hier rausholen können?«
»Dir wird bis jetzt nichts zur Last gelegt. Wir werden nur rasch deine Geschichte durchgehen, und dann hat die Polizei ein paar weitere Fragen an dich.«
»Die denken, ich habe dem Jungen wehgetan, aber ich nie.«
»Du meinst, du hast es niemals getan«, flüsterte Charlotte. »Was habe ich dir dazu gesagt?«
Daniel zog, indem er insgeheim Charlottes deplatzierter Rüge zustimmte, die Augenbrauen zusammen.
»Okay, möchtest du mir also erzählen, was am Sonntagnachmittag passiert ist?«, fragte Daniel. Er machte sich Notizen, während der Junge seine Version von der Geschichte erzählte, wie er nach draußen gegangen war, um mit dem Nachbarjungen Ben Stokes zu spielen.
»Die Stokes’ wohnen nur ein paar Häuser weiter«, fügte Charlotte hinzu. »Ab und zu spielen sie miteinander. Ben ist ein netter kleiner Junge, ziemlich helle, aber er ist ein bisschen jung für Sebastian.«
»Er ist erst acht«, sagte Sebastian, lächelte Daniel an und nickte, während er ihm direkt ins Gesicht sah. Er legte eine Hand vor seinen Mund, als wollte er ein Lachen unterdrücken. »Oder sollte ich sagen, er war acht? Er ist ja jetzt tot, nicht?«
Daniel bemühte sich, bei Sebastians Worten nicht zusammenzuzucken.
»Findest du das komisch?«, fragte Daniel. Er blickte zu Sebastians Mutter hinüber, aber sie musterte gedankenverloren ihre Fingernägel, als hätte sie nichts gehört. »Weißt du, was ihm passiert ist?«
Sebastian schaute weg. »Ich denke, es könnte ihn jemand überfallen haben. Vielleicht ein Kinderschänder.«
»Warum sagst du das?«
»Na ja, sie haben mir alle diese Fragen gestellt. Sie denken, es ist ihm etwas passiert, nachdem ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, und ich nehme an, wenn er tot ist, muss es ein Kinderschänder gewesen sein oder ein Massenmörder oder so was …«
Daniel sah den Jungen stirnrunzelnd an, aber der wirkte völlig gelassen, als betrachte er Bens Schicksal lediglich als eine intellektuelle Frage. Daniel drängte weiter und befragte Sebastian danach, was er gemacht habe, bevor und nachdem er am Tag zuvor nach Hause gekommen war. Der Junge äußerte sich klar und logisch.
»Okay«, sagte Daniel. Er hatte das Gefühl, als vertraue ihm der Junge. Er glaubte ihm. »Mrs. Croll?«
»Nennen Sie mich bitte Charlotte, meinen Ehenamen habe ich nie gemocht.«
»In Ordnung, Charlotte. Ich möchte nur auch Sie ein paar Dinge fragen, wenn das in Ordnung ist?«
»Natürlich.«
Daniel sah, dass sie auf ihren Zähnen etwas Lippenstift hatte, und als er sich ihr zuwandte, bemerkte er die Anspannung in ihrem kleinen Körper. Trotz der sorgfältigen Löckchen und dem präzisen Lidstrich wirkte die Haut um ihre Augen müde. Ihr Lächeln kostete sie eine Anstrengung. Wenn sie wüsste, dass sie Lippenstift auf ihren Zähnen hat, dachte Daniel, wäre sie erledigt.
»Als die Polizei heute Sebastian fand, war er allein zu Hause?«
»Nein, ich war auch da, habe aber geschlafen. Ich hatte Migräne und ein paar Tabletten dagegen genommen. Ich war total hin.«
»Als Sebastian mitgenommen wurde, sagte er dem Polizeibericht zufolge, dass er nicht wisse, wo Sie wären.«
»Oh, das war nur ein Witz. Das macht er öfter. Er veräppelt Leute gerne, verstehen Sie?«
»Ich hab sie bloß veräppelt«, wiederholte Sebastian eifrig.
»Die Polizei hatte keine Ahnung, wo Sie waren, deshalb forderte sie einen Sozialarbeiter an
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