Der Schutzengel
»weil ich mit Agenten und Lektoren verhandeln müßte – und sei es nur am Telefon. Auch darüber gäbe es Aufzeichnungen, die sich zu mir verfolgen ließen. Und ich kann keine Honorare kassieren, weil ich das Geld trotz aller Strohmänner, trotz verschiedener Bankkonten irgendwann persönlich abheben müßte, worüber es einen Beleg gäbe. Mit Hilfe dieses Belegs könnten sie mich aufspüren und in der Bank auf mich warten, um mich dort zu erledigen. Wie soll ich an das Geld herankommen, das wir bereits haben? Wie kann ich einen Scheck einlösen, ohne eine Spur zu hinterlassen, die in der Zukunft sichtbar ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Großer Gott, Chris, wir stecken in einer Zwickmühle!«
Jetzt war der Junge ratlos. Der Blick, mit dem er sie anstarrte, verriet, daß er nicht allzu viel Verständnis dafür hatte, woher Geld kam, wie es für zukünftige Verwendung aufbewahrt wurde oder wie schwierig es zu beschaffen war. »Na ja, wir könnten ein paar Tage rumfahren, in Motels schlafen und …«
»In Motels können wir nur schlafen, wenn ich bar bezahle. Eine Kreditkartenabrechnung würde schon genügen, um sie auf unsere Spur zu bringen. Dann würden sie nachts ins Motel kommen und uns dort ermorden.«
»Okay, okay, dann zahlen wir eben bar. He, wir könnten immer bei McDonald’s essen! Das kostet nicht viel und schmeckt klasse.«
Sie fuhren aus den Bergen, aus dem Schnee hinunter nach San Bernardino, einer Stadt mit etwas 300 000 Einwohnern, ohne unterwegs auf Killer zu stoßen. Laura mußte ihren Beschützer zu einem Arzt bringen – nicht nur, weil er ihr das Leben gerettet hatte, sondern auch, weil sie ohne ihn vielleicht nie erfahren würde, was wirklich gespielt wurde und wie sie aus dieser Zwickmühle entkommen konnten.
Sie durfte ihn nicht in ein Krankenhaus bringen, denn Krankenhäuser führten Aufzeichnungen, die Lauras Feinden in der Zukunft die Möglichkeit geben würden, sie aufzuspüren. Deshalb mußte sie ihn heimlich von einem Arzt versorgen lassen, der weder ihren Namen noch irgend etwas über den Verletzten erfuhr.
Kurz vor Mitternacht hielt Laura bei einer Telefonzelle neben einer Shell-Tankstelle. Das Glashäuschen stand an einer Ecke des Betriebsgrundstücks, was ideal war, weil Laura nicht riskieren durfte, daß der Tankwart auf die fehlenden Scheiben des Jeeps oder auf den Bewußtlosen auf der Ladefläche aufmerksam wurde.
Trotz aller Aufregung und obwohl Chris zuvor schon eine Stunde geschlafen hatte, war der Junge eingenickt. Auch Lauras Beschützer schlief, aber sein Schlaf war weder natürlich noch erholsam. Der Verletzte murmelte nicht mehr viel vor sich hin, seine Atemzüge waren zwischendurch minutenlang ein beängstigendes Pfeifen und Rasseln.
Sie ließ den Motor des Jeeps laufen, betrat die Telefonzelle,schlug das Telefonbuch auf und riß die Seiten mit den Ärzten einfach heraus.
Nachdem sie in der Tankstelle einen Stadtplan von San Bernardino gekauft hatte, machte sie sich im Jeep sitzend auf die Suche nach einem Arzt, der nicht in einer Gemeinschaftspraxis oder in einem Ärztehaus praktizierte, sondern die Praxis im eigenen Haus hatte, wie es früher in Kleinstädten und selbst in größeren Städten allgemein üblich gewesen war, obwohl heutzutage nur noch wenige Ärzte zu Hause praktizierten. Sie war sich bewußt, daß die Überlebenschancen ihres Beschützers sanken, je länger sie brauchte, um Hilfe zu finden.
Gegen 0.45 Uhr hielt Laura in einer ruhigen Wohnstraße mit älteren Häusern vor einem einstöckigen, weißen viktorianischen Haus, das aus einer anderen Ära – einem versunkenen Kalifornien – vor dem Siegeszug der Fertigputze stammte. Es stand mit seiner Doppelgarage auf einem Eckgrundstück unter Erlen, die jetzt im Winter unbelaubt waren, so daß der Eindruck entstand, das aus Haus und Grundstück bestehende Ensemble sei so von der Ostküste importiert worden. Laut Telefonbuch mußte hier Dr. Garter Brenkshaw wohnen, und das an der Einfahrt zwischen zwei schmiedeeisernen Pfosten hängende Namensschild bestätigte diesen Eintrag.
Laura fuhr zur nächsten Kreuzung weiter und parkte in der Querstraße. Sie stieg aus, griff sich eine Handvoll Erde aus der Rabatte der nächsten Einfahrt und machte damit die Autokennzeichen, so gut es ging, unleserlich.
Als sie wieder einstieg, nachdem sie sich die Hände mit Gras abgewischt hatte, war Chris wach, aber nach über zweistündigem Schlaf benommen und desorientiert. Sie tätschelte sein Gesicht, strich
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