Der Schutzengel
ihm die Haare aus der Stirn und redete rasch auf ihn ein, bis er ganz wach war. Auch die durch die zersplitterten Scheiben hereinfließende kalte Nachtluft trug dazu bei.
»Okay«, sagte Laura, als sie bestimmt wußte, daß er wach war, »hör mir jetzt gut zu, Partner. Ich habe einen Arzt gefunden. Kannst du dich krank stellen?«
»Klar.« Er verzog würgend und ächzend das Gesicht, als müsse er sich gleich übergeben.
»Übertreib’s nicht!« Sie erklärte ihm, was sie vorhatte.
»Guter Plan, Mom.«
»Nein, er ist verrückt. Aber mir fällt kein anderer ein.«
Sie wendete und fuhr zu Dr. Brenkshaws Haus zurück, wo sie in der Einfahrt vor dem Tor der zurückgesetzten Doppelgarage parkte. Chris rutschte zur Fahrertür hinüber, und Laura hielt ihn links an sich gedrückt, während sein Kopf an ihrer Schulter ruhte. Er klammerte sich an sie, so daß sie nur einen Arm brauchte, um ihn festzuhalten, obwohl er ziemlich schwer war; ihr Baby war eben kein Baby mehr. In der freien rechten Hand hielt sie einen Revolver.
Während sie Chris im rötlichen Quecksilberdampflicht einer der in weiten Abständen aufgestellten Straßenlampen unter den kahlen Erlen hindurch zur Haustür trug, konnte sie nur hoffen, daß niemand sie aus den Fenstern der Nachbarhäuser beobachtete. Andererseits war es vielleicht nicht ungewöhnlich, daß der Arzt nachts von kranken Patienten aus dem Bett geklingelt wurde.
Laura hastete die Stufen zur Haustür hinauf, blieb unter dem Vordach stehen und klingelte dreimal rasch hintereinander, wie es jede verzweifelte Mutter getan haben würde. Sie wartete nur wenige Sekunden, bevor sie erneut dreimal klingelte.
Nach einer Minute, als sie ein drittes Mal geklingelt hatte und bereits zu fürchten begann, Dr. Brenkshaw sei nicht zu Hause, ging das Licht über der Tür an. Laura sah, daß ein Mann sie durch das aus drei Scheiben bestehende fächerförmige Fenster im oberen Drittel der Haustür betrachtete.
»Bitte!« sagte sie drängend und achtete darauf, daß ihr Revolver nicht zu sehen war. »Mein Junge … er hat was Giftiges geschluckt!«
Der Mann öffnete die Tür nach innen, aber die vorgesetzte Sturmtür war nach außen zu öffnen, so daß Laura zwei Schritte zurücktreten mußte.
Der weißhaarige Mittsechziger sah wie ein Ire aus, hatte allerdings eine kräftige Adlernase und braune Augen. Er trug einen braunen Bademantel, einen weißen Schlafanzug und Lederpantoffeln. Jetzt starrte er Laura über den Rand seiner Schildpattbrille hinweg forschend an und fragte: »Was ist passiert?«
»Ich wohne zwei Straßen weiter, und Sie sind der nächste Arzt, und mein Junge – Gift!« Auf dem Höhepunkt ihrer gespielten Hysterie ließ sie Chris los, der sich sofort wegduckte, während sie dem Weißhaarigen die Mündung ihres Revolvers in den Bauch rammte. »Wenn Sie um Hilfe rufen, sind Sie ein toter Mann!«
Sie hatte nicht die Absicht, ihn zu erschießen, aber es mußte überzeugend geklungen haben, denn er nickte und hielt den Mund.
»Sind Sie Doktor Brenkshaw?« Als er nochmals nickte, erkundigte Laura sich: »Wer ist noch im Haus, Doktor?«
»Niemand. Ich bin allein.«
»Und Ihre Frau?«
»Ich bin Witwer.«
»Kinder?«
»Längst erwachsen und außer Haus.«
»Lügen Sie mich nicht an!«
»Ich habe mein Leben lang nie gelogen«, versicherte der Arzt ihr. »Das hat mich manchmal in Schwierigkeiten gebracht, aber stets die Wahrheit zu sagen macht das Leben im allgemeinen leichter. Hören Sie, hier ist’s kühl, und mein Bademantel ist nicht allzu warm. Drinnen können Sie mich ebensogut einschüchtern.«
Laura trat über die Schwelle, ließ den Revolver an seinen Magen gedrückt und schob ihn damit rückwärts vor sich her. Chris folgte ihr. »Schatz«, flüsterte sie ihm zu, »du kontrollierst das Haus. Ganz leise. Fang oben an und laß kein Zimmer aus. Solltest du jemand finden, behauptest du, der Doktor habe einen Notfall zu versorgen und brauche Hilfe.«
Während Chris nach oben verschwand, blieb Laura mit Carter Brenkshaw in der Diele zurück und bedrohte ihn weiter mit ihrer Pistole. Irgendwo im Hintergrund tickte eine alte Standuhr.
»Wissen Sie,« sagte der Arzt plötzlich, »ich habe schon immer gern Thriller gelesen.«
Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Na ja, ich denke an die altbekannte Szene, in der die bildhübsche Verbrecherin den Helden mit einer Waffe bedroht. Sobald es ihm gelungen ist, sie zu überwältigen, ergibt sie sich dem unvermeidlichen
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