Der Schutzengel
seines schmächtigen, knabenhaften Körpers – nichts als Knie, Rippen und Ellbogen – griff ihr ans Herz, so unschuldig und verletzlich sah er aus. Chris war so klein und zerbrechlich, daß sie sich fragte, wie sie ihn jemals beschützen sollte, und neue Angst in sich aufsteigen fühlte.
»Er redet, Mom«, sagte Chris und zeigte auf den Mann auf dem Bett. »Hast du es nicht gehört? Er spricht!«
»Wasser«, sagte ihr Beschützer heiser. »Wasser.«
Sie trat rasch ans Bett und beugte sich über ihn. Er war zu sich gekommen und versuchte sogar, sich aufzusetzen, aber er hatte keine Kraft. Seine blauen Augen standen offen, und obwohl sie blutunterlaufen waren, richteten sie sich wach und aufmerksam auf Laura.
»Durst«, sagte er.
»Chris!« rief sie halblaut.
Er brachte bereits ein Glas Wasser aus dem Bad.
Laura setzte sich neben ihren Beschützer auf die Bettkante, stützte seinen Kopf, ließ sich von Chris das Glas geben und half dem Verletzten trinken. Sie gestattete ihm nur kleine Schlucke, damit er sich nicht verschluckte. Seine Lippen waren aufgesprungen wie bei einem Fieberkranken, und auf seiner Zunge war ein weißer Belag zu sehen. Er trank über ein Drittel des Wassers, bevor er ihr zu erkennen gab, daß er genug habe.
Als sein Kopf wieder auf dem Kissen lag, legte sie ihm eine Hand auf die Stirn. »Längst nicht mehr so heiß.«
Er bewegte den Kopf von links nach rechts, als versuche er, den Raum in sich aufzunehmen. Trotz des Wassers klang seine Stimme trocken, ausgebrannt. »Wo sind wir?«
»In Sicherheit«, antwortete sie.
»Nirgends … sicher.«
»Wahrscheinlich wissen wir mehr über diese verrückte Geschichte, als du ahnst«, erklärte sie ihm.
»Richtig!« bestätigte Chris und setzte sich zu seiner Mutter aufs Bett. »Wir wissen, daß du ein Zeitreisender bist!«
Der Mann starrte den Jungen an, rang sich ein schwaches Lächeln ab und zuckte vor Schmerzen zusammen.
»Ich habe Medikamente«, sagte Laura. »Auch ein Schmerzmittel.«
»Nein, nicht jetzt«, wehrte er ab. »Vielleicht später … Mehr Wasser?«
Laura stützte ihn erneut. Diesmal leerte er das Glas fast ganz. Das Penicillin fiel ihr ein, und sie schob ihm eine Kapsel zwischen die Zähne. Er spülte sie mit den beiden letzten Schlucken hinunter.
»Von wann kommst du?« fragte Chris gespannt und ohne auf das Wasser zu achten, das aus seinem nassen Haar tropfte und ihm übers Gesicht lief. »Von wann?«
»Er ist sehr schwach, Schatz«, wandte Laura ein, »und ich halt’s für falsch, ihn jetzt mit Fragen zu belästigen.«
»Aber soviel kann er uns doch wenigstens verraten, Mom.« Chris fragte den Mann erneut: »Von wann kommst du?«
Während er zuerst Chris und dann Laura anstarrte, trat wieder der gehetzte Ausdruck in seine Augen.
»Von wann kommst du, he? Aus dem nächsten Jahrtausend? Aus dem Jahr dreitausend?«
»Neunzehnhundertvierundvierzig«, antwortete ihr Beschützer mit papiertrockener Stimme.
Schon diese geringe Aktivität hatte ihn offenbar ermüdet, denn seine Lider schienen schwer zu werden, seine Stimme war leiser geworden, so daß Laura nicht daran zweifelte, daß er wieder in Bewußtlosigkeit fiel.
»Von wann?« wiederholte Chris, den diese Antwort verblüfft hatte.
»Neunzehnhundertvierundvierzig.«
»Ausgeschlossen!« behauptete Chris.
»Berlin«, sagte ihr Beschützer.
»Er hat Fieberphantasien«, erklärte Laura ihrem Sohn.
Seine Stimme klang müde und schwach, aber was er sagte, war eindeutig: »Berlin.«
»Berlin?« wiederholte Chris. »Du meinst Berlin in Deutschland?«
Der Verletzte sank wieder in Schlaf – nicht in den unnatürlichen Schlaf eines Komas, sondern in einen erholsamen Schlaf, in dem er sofort leise zu schnarchen begann. Aber bevor er einschlief, sagte er noch: »Nazideutschland« .
Im Fernsehen lief »On Life to Live«, aber weder sie noch Chris achteten darauf. Sie hatten die beiden Sessel näher ans Bett gerückt, um den Schlafenden beobachten zu können. Chris war jetzt wieder angezogen, und sein Haar war nur noch im Nacken feucht. Laura hätte am liebsten ebenfalls geduscht, aber sie wollte zur Stelle sein, falls ihr Beschützer wieder etwas sagte. Sie und der Junge unterhielten sich im Flüsterton.
»Weißt du, was ich mir eben überlegt habe, Chris? Nehmen wir einmal an, diese Leute kämen aus der Zukunft – hätten sie dann nicht Laserwaffen oder sonst was Futuristisches bei sich?«
»Sie würden nicht wollen, daß jemand merkt , daß sie aus der Zukunft
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