Der Schutzengel
das er vor Jahren oder Jahrzehnten verlassen hat. Verkürzt oder verlängert er seine Reise jedoch um ein paar Stunden, hat die Erde sich kürzer oder länger gedreht, so daß er an einem anderen Ort ankommt. Die für eine präzise Ortsbestimmung erforderlichen Berechnungen sind in meiner Zeit – im Jahre 1944 – ungeheuer schwierig …«
»Aber heutzutage wären sie einfach – mit Computern«, sagt Chris.
Stefan veränderte unbehaglich seine Haltung in den Kissen, die ihn stützten, und legte seine zitternde Rechte auf die verletzte linke Schulter, als könne er seine Schmerzen durch diese Berührung lindern. »Von Gestapo-Männern begleitete Teams deutscher Physiker sind in verschiedene europäische und amerikanische Städte des Jahres 1985 entsandt worden«, berichtete er dann weiter, »um entscheidend wichtige Informationen über den Bau von Atomwaffen zu sammeln. Die Unterlagen, auf die sie’s abgesehen hatten, waren weder als geheim eingestuft, noch schwer zu finden. Auf der Grundlage ihrer eigenen Forschungsergebnisse haben sie sich den Rest aus Fachbüchern und wissenschaftlichen Veröffentlichungen zusammensuchen können, die 1985 in jeder größeren Universitätsbibliothek standen. Vier Tage vor meiner letzten Zeitreise hierher sind diese Teams im März 1944 mit Material aus dem Jahre 1985 zurückgekommen, mit dem das Dritte Reich bis zum Herbst die erste Atommacht werden kann. Sie wollten das Material einige Wochen lang im Institut studieren, um dann zu entscheiden, wo und wie es ohne Hinweis auf seine Herkunft ins deutsche Atomforschungsprogramm eingeschleust werden könnte. Das hat mich endgültig in meinem Vorhaben bestärkt, das Institut mitsamt allen Wissenschaftlern und Unterlagen zu vernichten, um eine von Adolf Hitler gestaltete Zukunft zu verhindern.«
Stefan Krieger berichtete Chris und Laura, die gespannt zuhörten, wie er im Jahre 1944 die Sprengladungen im Institut angebracht, Penlowksi, Janusky und Wolkow erschossen und das Zeittor so programmiert hatte, daß es ihn zu Laura ins heutige Amerika brachte.
Aber vor Stefans Abreise war in letzter Minute etwas schiefgegangen. Die RAF hatte Berlin immer öfter und mit immer nachhaltigerer Wirkung bombardiert, US-Bomber hatten am 6. März den ersten Tagesangriff geflogen, so daß die Stromversorgung häufig unterbrochen war – nicht nur durch Luftangriffe, sondern auch durch Sabotageakte. Um vor solchen Strom-ausfällen sicher zu sein, wurde das Tor durch einen eigenen Generator versorgt. Als Stefan an jenem Tag von Kokoschka angeschossen in den Stahlzylinder gekrochen war, hatte er nichts von einem Bombenangriff gehört, so daß der Stromausfall wohl auf Sabotage zurückzuführen gewesen war.
»Dadurch ist der Zeitzünder stromlos geworden. Das Tor ist intakt geblieben: Es steht weiterhin offen, und sie können uns hierher verfolgen. Und sie … sie können den Krieg noch immer gewinnen.«
Lauras Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Sie preßte ihre Fingerspitzen an die Schläfen. »Augenblick! Hitler kann es nicht gelungen sein, Atombomben zu bauen und den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, weil wir nicht in einer Welt leben, in der das geschehen ist. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, Stefan. Trotz aller Informationen, die sie zurückgebracht haben, ist es ihnen offenbar doch nicht gelungen, Atomwaffen zu entwickeln.«
»Nein«, widersprach er. »Sie haben bisher keinen Erfolg gehabt, aber wir dürfen nicht annehmen, daß ihre Mißerfolge sich fortsetzen werden. Wie ich bereits festgestellt habe, ist die Vergangenheit für die Männer, die 1944 in Berlin im Institut tätig sind, unveränderbar. Sie können nicht zurückreisen und ihre eigene Vergangenheit ändern. Aber sie können ihre – und unsere – Zukunft ändern, weil die Zukunft eines Zeitreisenden durch gezielte Maßnahmen veränderbar ist.«
»Aber seine Zukunft ist meine Vergangenheit«, wandte Laura ein. »Und wie soll er meine Vergangenheit ändern können, wenn sie unveränderbar ist?«
»Richtig«, stimmte Chris zu. »Paradox.«
»Hör zu, Stefan«, fuhr Laura fort, »ich bin in keiner von Adolf Hitler und seinen Erben beherrschten Welt aufgewachsen – folglich hat Hitler trotz eurer Zeitmaschine nicht gesiegt.«
Stefan schüttelte traurig den Kopf. »Würde die Zeitmaschine jetzt, im Jahre 1989, erfunden werden, wäre diese Vergangenheit, von der du sprichst – mit dem Zweiten Weltkrieg und allen seinen Folgen –, unveränderbar. Du könntest sie nicht
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