Der Schutzengel
Mülltonnen gerollt sein«, antwortete Stefan, »und sie haben ihn in den wenigen Sekunden, die ihnen noch blieben, nicht mehr gefunden. Hätten sie ihn entdeckt, hätten sie ihn auf die Leiche legen und mit den Händen des Toten bedecken können. Was ein Zeitreisender anhat oder bei sich trägt, nimmt er mit nach Hause. Aber die Polizeisirenen kamen rasch näher, und dort hinten war’s bestimmt finster … so hatten sie keine Zeit mehr, den Kopf zu suchen.«
Chris, von dem eigentlich zu erwarten gewesen wäre, daß er diese grotesken Details genießen würde, hockte mit untergeschlagenen Beinen in seinem Sessel und schwieg. Vielleicht hatte ihm die schreckliche Vorstellung von einem abgetrennten Schädel die Realität des Todes eindringlicher vor Augen geführt als alle bisher gefallenen Schüsse.
Laura bemühte sich um Chris, nahm ihn in die Arme und versicherte ihm auf besonders liebevolle Art, daß sie gemeinsam und unverletzt aus dieser Sache herauskommen würden. Die Umarmungen waren jedoch ebenso für sie selbst bestimmt, ihren aufmunternden Worten fehlte die rechte Überzeugungskraft, denn Laura hatte sich noch nicht einreden können, daß sie tatsächlich am Ende triumphieren würden.
Das Mittag- und Abendessen holte sie wieder aus dem Chinarestaurant auf der anderen Straßenseite. Am Vorabend hatte keiner der chinesischen Angestellten sie als die bekannte Schriftstellerin oder die von der Polizei Flüchtige erkannt, so daß sie sich dort verhältnismäßig sicher fühlen konnte. Es wäre töricht gewesen, anderswo hinzugeben und zu riskieren, erkannt zu werden.
Während Laura nach dem Abendessen die Pappbehälter zusammenräumte, überraschte Chris sie mit zwei kleinen Napfkuchen mit Schokoladeguß, in denen je eine gelbe Kerze steckte. Die Kuchen und eine Schachtel Geburtstagskerzen hatte er am Morgen zuvor in Ralph’s Supermarket gekauft und bis jetzt versteckt gehalten. Jetzt trug er die Kuchen mit den zuvor im Bad angezündeten Kerzen feierlich herein, und der goldene Kerzenschein spiegelte sich in seinen Augen. Chris grinste, als er sah, wie überrascht und entzückt Laura war. Tatsächlich mußte sie sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie war gerührt, weil Chris trotz aller Angst, trotz aller Gefahren, an ihren Geburtstag gedacht und den Wunsch gehabt hatte, ihr eine Freude zu machen.
Sie aßen jeder ein keilförmiges Stück Napfkuchen. Außerdem waren Laura im Chinarestaurant fünf Horoskop-Plätzchen mitgegeben worden.
Stefan lehnte sich in die Kissen zurück und brach seinen Keks auf. »Schön wär’s ja: ›Du wirst in Frieden und Überfluß leben.‹«
»Vielleicht kommt alles noch«, meinte Laura. Sie brach ihren Keks auf und zog das Papierröllchen heraus. »Oh, vielen Dank, davon hab’ ich eigentlich schon genug: ›Abenteuer werden deine Gefährten sein‹.«
Als Chris seinen Keks aufbrach, fand er kein Papierröllchen – kein Horoskop, keine Zukunft.
Laura lief ein kalter Schauer über den Rücken, als bedeute das leere Horoskop-Plätzchen tatsächlich, daß er keine Zukunft habe. Abergläubischer Unsinn! Trotzdem konnte sie ihre plötzlich aufflammende Angst nicht ganz unterdrücken.
»Hier«, sagte sie rasch und gab Chris die beiden letzten Kekse. »Daß du einmal kein Horoskop gefunden hast, bedeutet nur, daß dir zwei zustehen – für jede Zukunft eines.«
Chris brach den ersten auf, las das Horoskop, lachte und las es laut vor: »Du wirst Ruhm und Reichtum erlangen.«
»Unterstützt du mich im Alter, wenn du später stinkreich bist?« fragte Laura.
»Klar, Mom. Nun … solange du für mich kochst – vor allem deine Gemüsesuppe.«
Stefan Krieger lächelte über diese scherzhafte Diskussion zwischen Mutter und Sohn. »Ein eiskalter Bursche, was?«
»Bestimmt läßt er mich mit achtzig noch Fußböden schrubben«, behauptete Laura.
Chris brach den zweiten Keks auf »Du wirst die kleinen Freuden des Lebens genießen – Bilder, Bücher, Musik.«
Weder Chris noch Stefan schienen zu merken, daß die beiden Horoskope gegensätzliche Aussagen enthielten und sich damit praktisch aufhoben, was die bedrohliche Aussage des leeren ersten Horoskop-Plätzchens in gewisser Beziehung bestätigte.
He, du spinnst ja, Shane! warf Laura sich vor. Das sind doch bloß Horoskop-Plätzchen. Sie sagen nicht wirklich die Zukunft voraus.
Stunden später, als das Licht gelöscht und Chris längst eingeschlafen war, sprach Stefan Laura aus dem Dunkel an: »Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher