Der Schutzengel
Knie nieder, als kniee er vor einem Altar, und senkte den Kopf, so daß er ein leichtes, keinen Widerstand bildendes Ziel bildete. »Mein Führer, ich bin hergekommen, um meinen guten Namen reinzuwaschen und Sie vor Verrätern im Institut und unter den dorthin abkommandierten Gestapo-Beamten zu warnen.«
Der Diktator schwieg lange.
Die Druckwellen des nächtlichen Bombenangriffs pflanzten sich durch die Erde und die sechs Meter dicken Stahlbeton-wände fort und füllten den Bunker unaufhörlich mit einem tiefen, bedrohlich klingenden Dröhnen. Bei jeder Detonation in Bunkernähe klapperten die drei Ölgemälde nach der Eroberung Frankreichs aus dem Louvre nach Berlin entführt an den Wänden, und aus dem großen Kupferkessel mit Bleistiften auf Hitlers Schreibtisch kam ein hohles, vibrierendes Geräusch.
»Stehen Sie auf, Stefan«, forderte Hitler ihn jetzt auf. »Nehmen Sie Platz.« Er deutete auf einen braunen Ledersessel, eines der nur fünf Möbelstücke in diesem beengten, fensterlosen Arbeitszimmer. Dann legte er die Luger auf seinen Schreibtisch – allerdings in bequemer Reichweite. »Ich hoffe nicht nur um Ihre Ehre, sondern auch um der Ihres Vaters und der Schutzstaffel willen, daß Sie so unschuldig sind, wie Sie behaupten.«
Stefan sprach energisch, weil er wußte, daß Hitler dafür empfänglich war; zugleich sprach er jedoch auch mit gespielter Ehrfurcht, als glaube er tatsächlich, sich in Gegenwart eines Mannes zu befinden, der das wahre Wesen des deutschen Volkes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verkörperte. Noch besser als energisches Auftreten gefiel Hitler nämlich die kriecherische Ehrfurcht, die bestimmte Gefolgsleute ihm entgegenbrachten. Die Gratwanderung zwischen diesen beiden Extremen war schwierig, aber für Stefan, war dies nicht das erste Gespräch mit dem Führer: Er hatte schon einige Übung darin, sich bei diesem Größenwahnsinnigen, dieser Viper in Menschengestalt einzuschmeicheln.
»Mein Führer, ich habe Wladimir Penlowski, Janusky und Wolkow nicht erschossen. Das ist Kokoschka gewesen. Er hat Hochverrat begangen. Ich habe ihn im Institutsarchiv ertappt, unmittelbar nachdem er Janusky und Wolkow ermordet hatte. Er hat auch auf mich geschossen.« Stefan legte seine Rechte aufs linke Schlüsselbein. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Wunde zeigen. Angeschossen bin ich dann vor ihm ins Hauptlabor geflüchtet. Ich war verwirrt, weil ich nicht beurteilen konnte, wie viele Institutsangehörige in diese Verschwörung verwickelt waren. Und da ich nicht wußte, wen ich um Hilfe hätte bitten können, hat es für mich nur eine Rettungsmöglichkeit gegeben – ich bin durchs Tor in die Zukunft geflüchtet, bevor Kokoschka mich einholen und mir den Rest geben konnte.«
»Der Bericht von Hauptkommissar Kokoschka lautet ganz anders. Er behauptet darin, Sie angeschossen zu haben, als Sie durchs Tor flüchten wollten, nachdem Sie Penlowski und die anderen ermordet hatten.«
»Wäre ich dann hierher zurückgekehrt, mein Führer?« fragte Stefan. »Wäre ich ein Verräter, der mehr Vertrauen zur Zukunft hat als zu Ihnen, dann wäre ich bestimmt in der Zukunft geblieben.«
»Aber sind Sie dort denn sicher gewesen Stefan?« erkundigte Hitler sich verschlagen lächelnd. »Soviel ich weiß, sind in der Zukunft zwei Gestapo-Trupps und später ein SS-Kommando auf Sie angesetzt worden.«
Bei der Erwähnung des SS-Kommandos erschrak Stefan, dann das mußte die Gruppe sein, die weniger als eine Stunde vor seiner Abreise in Palm Springs eingetroffen war – die Gruppe, deren Ankunft die Blitze aus heiterem Himmel angekündigt hatten. Weil er der SS weit mehr Pflichtbewußtsein und mörderische Fähigkeiten zutraute als der Gestapo, machte er sich plötzlich Sorgen um Laura und den Jungen.
Darüber hinaus aber erkannte er, daß man Hitler verschwiegen hatte, daß eine Frau die Gestapo-Trupps zurückgeschlagen hatte: Hitler, der nicht wußte, daß Stefan im Koma gelegen hatte, mußte glauben, er habe sie allein abgewehrt. Das paßte zu dem, was er erzählen wollte, deshalb sagte er: »Jawohl, mein Führer, ich habe mich guten Gewissens gegen diese Männer zur Wehr gesetzt, denn ich wußte, daß sie alle Verräter waren, die mich zum Schweigen bringen wollten, damit ich nicht zurückkommen und Sie vor den im Institut tätigen Verschwörern warnen könnte. Kokoschka und fünf weitere Männer aus dem Institut sind seither verschwunden, nicht wahr? Sie haben kein Vertrauen zur Zukunft des
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