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Der Schutzengel

Der Schutzengel

Titel: Der Schutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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…«
    Trotz aller ihrer sonstigen Unterschiede hatten Flora und Mike eine Überzeugung gemeinsam: Ein Pflegekind nahm man nur auf, um sich ein kostenloses Dienstmädchen zu sichern. Laura sollte kochen, spülen, putzen, waschen und bügeln.
    Ihre eigene Tochter – Hazel, ein Einzelkind – war zwei Jahre älter als Laura und gründlich verzogen. Hazel brauchte nie zu kochen, zu spülen, zu putzen, zu waschen oder zu bügeln. Obwohl sie erst 14 war, hatte sie perfekt gepflegte und lackierte Finger- und Zehennägel. Hätte man von ihrem Alter die Stunden abgezogen, die sie sich vor dem Spiegel bewunderte, wäre sie erst fünf Jahre alt gewesen.
    »Am Waschtag mußt du meine Sachen zuerst bügeln«, erklärte sie Laura an deren erstem Tag bei den Teagels. »Und vergiß nicht, sie nach Farben geordnet in meinen Kleiderschrank zu hängen.«
    Dieses Buch habe ich gelesen, diesen Film habe ich gesehen, dachte Laura. Großer Gott, ich spiele die Hauptrolle in Cinderella!
    »Später werd’ ich mal ein großer Filmstar oder ein bekanntes Fotomodell«, sagte Hazel. »Deshalb sind mein Gesicht, meine Hände und mein Körper meine Zukunft. Ich muß gut auf sie achten.«
    Als Mrs. Ince – die für Laura zuständige spindeldürre Sozialarbeiterin mit dem Spitzmausgesicht – der Familie Teagel am Vormittag des 16. September, einem Samstag, den angekündigten Besuch abstattete, wollte Laura sie auffordern, für ihre Rückkehr ins McIllroy zu sorgen. Die dort von Willy Sheener ausgehende Gefahr erschien ihr als geringeres Problem als der Alltag bei den Teagels.
    Mrs. Ince traf pünktlich ein und sah Flora Geschirr spülen, was diese seit zwei Wochen zum erstenmal tat. Laura saß am Küchentisch und war scheinbar damit beschäftigt, ein Kreuzworträtsel zu lösen, das ihr jedoch erst in die Hand gedrückt worden war, als es klingelte.
    Während des in Lauras Zimmer stattfindenden Gesprächs unter vier Augen, das zu Mrs. Inces Besuchsprogramm gehörte, weigerte die Sozialarbeiterin sich, ihr die Überlastung durch Hausarbeit zu glauben. »Aber Mr. und Mrs. Teagel sind vorbildliche Pflegeeltern, meine Liebe. Und du siehst nicht so aus, als würdest du ausgenutzt. Du hast sogar ein paar Pfund zugenommen.«
    »Ich behaupte nicht, daß sie mich verhungern lassen«, sagte Laura. »Aber ich habe nie Zeit für meine Hausaufgaben. Ich falle jeden Abend erschöpft ins Bett und …«
    »Außerdem«, unterbrach Mrs. Ince sie, »sollen Pflegeeltern die ihnen anvertrauten Kinder nicht nur aufziehen, sondern auch erziehen , was bedeutet, daß sie ihnen Manieren beibringen, ihren Sinn für gute Werte wecken und sie zu Fleiß und Ordnung anhalten.«
    Mrs. Ince war ein hoffnungsloser Fall.
    Laura griff auf den Plan der Ackerson-Zwillinge – »Wie werde ich eine unerwünschte Pflegefamilie los?« – zurück. Sie begann, schlampig zu putzen. Hatte sie abgewaschen, war das Geschirr noch fleckig und schlierig. Sie bügelte Falten in Hazels Kleidungsstücke.
    Da die Vernichtung des größten Teils ihrer Bücher ihre Achtung vor jeglicher Art von Eigentum erhöht hatte, brachte Laura es nicht über sich, Geschirrstücke oder sonstigen Besitz der Teagels zu zertrümmern, also ersetzte sie diesen Teil des Ackerson-Plans durch Frechheit und Verachtung. Für ein Kreuzworträtsel brauchte Flora eine Rinderrasse mit sechs Buchstaben, und Laura sagte: »Teagel«. Als Mike von fliegenden Untertassen erzählte, von denen er im »Enquirer« gelesen hatte, unterbrach sie ihn mit einer Fabel über Maulwurfsmenschen, die im hiesigen Supermarkt lebten. Und Hazel suggerierte sie, der große Durchbruch im Showgeschäft sei ihr sicher, wenn sie sich als Double für Ernest Borgnine bewerbe. »Du siehst ihm täuschend ähnlich, Hazel. Sie müssen dich einfach nehmen!«
    Diese Unverschämtheiten brachten ihr sofort eine Tracht Prügel ein. Mike legte sie übers Knie und versohlte sie mit seiner breiten, schwieligen Hand, aber Laura biß sich auf die Unterlippe und weigerte sich, ihm die Befriedigung zu verschaffen, sie zum Weinen gebracht zu haben. »Das reicht, Mike«, sagte Flora, die von der Küchentür aus zugesehen hatte. »Man darf keine Spuren sehen.« Er hörte erst widerstrebend auf, als seine Frau ins Wohnzimmer kam und ihm in den Arm fiel.
    In dieser Nacht fand Laura kaum Schlaf. Sie hatte erstmals ihre Sprachfertigkeit – die Macht des Wortes – genutzt, um eine erwünschte Wirkung zu erzielen, und die Reaktion der Teagels hatte bewiesen, daß sie sich

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