Der Schutzengel
den Ackersons aus. Während sie Laura und den Zwillingen zuhörte, sagte Rebecca immer wieder mit überlegener, verächtlicher Miene: »Ihr spinnt!« oder »Völlig bescheuert!« oder »Gott, was für Spinner!«, womit sie die Atmosphäre etwa so wirkungsvoll vergiftete wie eine Atombombendetonation.
Laura und die Zwillinge gingen nach draußen in eine Ecke des Spielplatzes, wo sie ohne Rebeccas hämische Kommentare über die vergangenen fünf Wochen schwatzen konnten. Ende Oktober waren die Tage noch warm, obwohl die Luft um Viertel vor fünf schon kühl wurde. Sie trugen Jacken und saßen aufden unteren Ästen des Spieldschungels, der jetzt verlassen war, weil die kleineren Kinder sich wuschen, um dann als erste zu Abend zu essen.
Sie waren noch keine fünf Minuten auf dem Spielplatz, als Willy Sheener mit einer elektrischen Heckenschere erschien. Er machte sich daran, etwa zehn Meter von ihnen entfernt eine Taxushecke zu schneiden, hatte aber nur Augen für Laura.
Beim Abendessen war der Aal auf seinem Posten hinter der langen Theke, wo er Milchtüten und Kirschkuchen ausgab. Das größte Stück hatte er für Laura aufgehoben.
Am Montag kam Laura in eine neue Schule, in der die anderen Kinder bereits vier Wochen Zeit gehabt hatten, Freundschaften zu schließen. Ruth und Thelma saßen in einigen ihrer Kurse, was die Anpassung erleichterte, aber sie wurden trotzdem wieder daran erinnert, daß Ungewißheit ein Hauptbestandteil des Lebens von Waisen war.
Als Laura am Dienstagnachmittag aus der Schule kam, hielt Mrs. Bowmaine sie in der Eingangshalle auf. »Laura, kommst du mit in mein Büro?«
Mrs. Bowmaine trug ein Kleid mit purpurrotem Blütenmuster, das in scheußlichem Gegensatz zu den rosaroten und pfirsichfarbenen Blütenmustern der Vorhänge und Tapeten stand. Laura durfte in einem Sessel mit Rosenmuster Platz nehmen. Mrs. Bowmaine blieb stehen, weil sie die Sache mit Laura kurz abhandeln wollte, um neue Aufgaben in Angriff nehmen zu können. Mrs. Bowmaine war ständig aktiv, ständig in Bewegung, ständig überbeschäftigt.
»Eloise Fisher ist seit heute nicht mehr bei uns«, sagte Mrs. Bowmaine.
»Wer hat das Sorgerecht zugesprochen bekommen?« erkundigte Laura sich. »Sie wäre am liebsten zu ihrer Großmutter gegangen.«
»Dort ist sie jetzt auch«, bestätigte Mrs. Bowmaine.
Gut für Eloise! Laura hoffte, daß die bezopfte zukünftige Buchhalterin außer ihren Zahlen auch einen Menschen finden würde, dem sie trauen konnte.
»Du hast keine Zimmergenossin mehr«, fuhr Mrs. Bowmaine energisch fort, »und wir haben anderswo kein freies Bett, so daß du nicht einfach einziehen und …«
»Darf ich einen Vorschlag machen?« fragte Laura.
Mrs. Bowmaine runzelte die Stirn und sah auf ihre Armbanduhr.
»Ruth und Thelma sind meine besten Freundinnen«, sagte Laura hastig, »und sie sind mit Tammy Hinsen und Rebecca Bogner zusammen. Aber ich glaube nicht, daß Tammy und Rebecca gut mit Ruth und Thelma auskommen. Deshalb …«
»Wir möchten, daß ihr Kinder lernt, mit Menschen zurechtzukommen, die anders sind. Das Zusammenleben mit Mädchen, die ihr bereits mögt, ist nicht charakterbildend. Außerdem kann ich erst morgen Umbelegungen veranlassen; heute bin ich zu beschäftigt. Deshalb will ich von dir wissen, ob ich dir trauen kann, wenn du diese Nacht allein in deinem jetzigen Zimmer verbringst.«
»Trauen?« wiederholte Laura verwirrt.
»Sag mir die Wahrheit, junge Dame. Kann ich dir trauen, wenn du heute nacht allein bist?«
Laura verstand nicht, welche Probleme die Sozialarbeiterin erwartete, wenn sie ein Kind eine Nacht allein ließ. Oder rechnete sie damit, daß Laura sich so wirkungsvoll verbarrikadieren würde, daß die Polizei dann die Tür aufbrechen, sie mit Tränengas überwältigen und in Handschellen abführen mußte?
Laura war ebenso gekränkt wie beleidigt. »Klar, ich komme schon zurecht. Ich bin kein Baby mehr. Ich hab’ keine Angst.«
»Nun … okay. Heute nacht schläfst du allein, aber morgen sehen wir zu, daß wir dich anderswo unterbringen.«
Nachdem Laura aus Mrs. Bowmaines farbenprächtigem Büro in den grauen Korridor getreten war und die Treppe zum zweiten Stock hinaufstieg, dachte sie plötzlich: Der Weiße Aal! Sheener würde wissen, daß sie in dieser Nacht allein war. Er wußte alles, was im McIllroy vor sich ging, und hatte sämtliche Schlüssel, so daß er nachts zurückkommen konnte. Ihr Zimmer lag gleich neben der Nordtreppe: Er konnte sich vom Treppenhaus
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