Der Schutzengel
sagte sie.
»Deine Freundin Thelma ist viel zu altklug, viel zu sehr von sich selbst überzeugt«, behauptete Miss Keist. »Wenn du dumm genug bist, nochmals gegen die Heimordnung zu verstoßen, nur um eine Nacht lang schwatzen zu können, dann such dir lieber Freundinnen, für die sich’s lohnt, das zu riskieren.«
»Ja, Ma’am«, sagte Laura, nur um sie loszuwerden. Sie bedauerte, auch nur daran gedacht zu haben, auf die vorübergehende Besorgnis der Erzieherin einzugehen.
Nachdem Miss Keist gegangen war, verließ Laura nicht sofort ihr Bett und flüchtete. Sie blieb in der Dunkelheit liegen, weil sie sicher war, daß in einer halber Stunde eine weitere Bettenkontrolle stattfinden würde. Der Aal würde sich garantiert nicht vor Mitternacht heranschlängeln, und da es erst 22 Uhr war, hatte Laura zwischen Miss Keists nächster Kontrolle und Sheeners Eintreffen reichlich Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.
In weiter, weiter Ferne erklang Donnergrollen. Sie setzte sich im Bett auf. Ihr Beschützer! Laura schlug die Bettdecke zurück und lief ans Fenster. Sie sah keine Blitze. Der ferne Donner verhallte. Vielleicht war’s gar kein Donner gewesen. Sie wartete noch zehn Minuten, ohne daß irgend etwas geschah. Dann kehrte sie enttäuscht in ihr Bett zurück.
Kurz nach 22.30 Uhr knarrte die Türklinke. Laura schloß die Augen, ließ ihren Mund offen und spielte die Schlafende.
Jemand kam leise herein, durchquerte den Raum und blieb neben dem Bett stehen.
Laura atmete langsam, tief und regelmäßig, aber das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Es war Sheener. Sie wußte , daß er’s war. O Gott, sie hatte vergessen, daß er verrückt, daß er unberechenbar war, und jetzt war er früher als erwartet hier und bereitete die Betäubungsspritze vor. Er würde sie in einen Rupfensack stopfen und davonschleppen, als wäre er ein geistesgestörter Weihnachtsmann, der kam, um Kinder zu stehlen, anstatt ihnen Geschenke zu bringen.
Die Wanduhr tickte. Eine kühle Brise ließ die Vorhänge rascheln.
Endlich zog die neben dem Bett stehende Gestalt sich wieder zurück. Die Tür wurde leise geschlossen.
Es war also doch Miss Keist gewesen!
Laura stand heftig zitternd auf und schlüpfte in ihren Bademantel. Sie nahm die Bettdecke zusammengefaltet über den Arm und verließ das Zimmer ohne Pantoffeln, weil sie wußte, daß ihre Schritte barfuß leiser waren.
Ins Zimmer der Ackersons konnte sie nicht zurück. Statt dessen ging sie zur Nordtreppe, öffnete vorsichtig die Tür und trat auf den schwach beleuchteten Treppenabsatz hinaus.
Sie horchte ängstlich nach unten, wo sie Sheeners Schritte zu hören fürchtete. Dann stieg sie wachsam die Treppe hinab, darauf gefaßt, dem Aal zu begegnen. Aber sie erreichte ungehindert das Erdgeschoß.
Vor Kälte zitternd, weil ihre nackten Füße auf den Bodenfliesen auskühlten, suchte sie im Spielsaal Zuflucht. Sie machte kein Licht, sondern begnügte sich mit dem geisterhaften Schein der Straßenlampen, der durch die Fenster fiel und die Kanten der Möbelstücke in silbriges Licht tauchte.
Sie schlich an Stühlen und Tischen vorbei und streckte sich hinter dem Sofa auf ihrer zusammengelegten Decke aus.
Sie schlief nur leicht und schreckte wiederholt aus Alpträumen hoch. Im alten Herrenhaus erwachte des Nachts heimliches Leben: Die Bodendielen der Decke über Laura knarrten, in den alten Wasserleitungen gurgelte es.
Stefan schaltete alle Lampen aus und wartete in dem für ein Kind eingerichteten Schlafzimmer. Kurz vor 3.30 Uhr hörte er Sheener zurückkommen. Stefan trat lautlos hinter die Schlafzimmertür. Einige Minuten später kam Willy Sheener herein, machte Licht und bewegte sich auf die Matratze zu. Während er den Raum durchquerte, gab er einen merkwürdigen Laut von sich: halb ein Seufzen, halb das Winseln eines Tieres, das sich aus einer feindseligen Welt in seinen sicheren Bau zurückzieht.
Stefan schloß die Tür. Sheener warf sich bei diesem Geräusch herum und war offenbar entsetzt, daß jemand in seinen Zufluchtsort eingedrungen war. »Wer … wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen, verdammt noch mal?«
Aus einem im Schatten auf der anderen Seite geparkten Chevy beobachtete Kokoschka, wie Stefan Willy Sheeners Haus verließ. Er wartete noch zehn Minuten, stieg dann aus, ging um den Bungalow herum, fand die Hintertür offen und trat vorsichtig ein.
Er entdeckte Sheener in seinem Kinderzimmer: übel zugerichtet, blutend und still. Das Zimmer stank nach Urin, denn
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