Der Schutzengel
Ruth … wie Ruth … Ruth in Flammen stand …«
Draußen ging die purpurrote Abenddämmerung in eine sternenklare Nacht über.
Die Schatten in den Ecken des Zimmers wurden dunkler, bedrohlicher.
Der noch in der Luft hängende Brandgeruch schien stärker zu werden.
»… und ich wollte hinlaufen, um sie rauszuholen, natürlich war’ ich hingelaufen, aber dann ist das F-Feuer explodiert , es hüllte das ganze Zimmer ein, und der Qualm war so schwarz und dicht, daß ich weder Ruth noch irgendwas sehen konnte … Dann hörte ich Sirenen, laute Sirenen ganz in der Nähe, und redete mir ein, die Feuerwehr würde rechtzeitig kommen und Ruth retten, aber das ist eine L-L-Lüge gewesen, die ich einfach glauben wollte, und … Ich hab’ sie dort drin zurückgelassen, Shane! O Gott, ich bin durchs Fenster abgehauen und hab’ Ruthie brennend, in F-F-Flammen zurückgelassen …«
»Du hast nichts anderes tun können«, versicherte Laura ihr.
»Ich hab’ Ruthie brennend zurückgelassen.«
»Du hättest ihr nicht helfen können.«
»Ich hab’ Ruthie im Stich gelassen.«
»Wem hätte es genützt, wenn du auch umgekommen wärst?«
»Ich hab’ Ruthie brennend zurückgelassen.«
Im Mai 1968, nach ihrem dreizehnten Geburtstag, kam Thelma ebenfalls nach Caswell Hall und bezog dort ein Zimmer gemeinsam mit Laura. Die Heimleitung war mit dieser Lösung einverstanden, weil Thelma unter Depressionen litt und auf keine Therapie reagierte. Vielleicht fand sie den benötigten Trost in ihrer Freundschaft mit Laura.
Laura bemühte sich monatelang verzweifelt, Thelmas Verfall aufzuhalten, ins Gegenteil zu verwandeln. Ihre Freundin wurde nachts von Alpträumen heimgesucht und quälte sich tagsüber mit Selbstvorwürfen. Die Zeit wirkte allmählich heilend, obwohl ihre Wunden sich niemals ganz schlossen. Thelmas Sinn für Humor kehrte langsam zurück, ihr Witz war wieder so ätzend wie früher, aber eine neue Art von Melancholie ergriff von ihr Besitz.
Die beiden teilten sich fünf Jahre lang ein Zimmer in Caswell Hall, bis sie aus staatlicher Vormundschaft entlassen wurden, um in Zukunft für ihr Leben ausschließlich selbst verantwortlich zu sein. In diesen Jahren hatten sie viel Spaß zusammen, das Leben war wieder schön, wenn es auch nie mehr so wurde, wie es vor dem Brand gewesen war.
Beherrschendes Objekt im Hauptlabor war das Tor, durch das man andere Zeitalter betreten konnte. Es bestand aus einem riesigen, trommelförmigen Zylinder von vier Meter Länge und zweieinhalb Meter Durchmesser, dessen blanke Edelstahlhülle mit polierten Kupferplatten ausgekleidet war. Der Zylinder ruhte auf Kupferblöcken einen halben Meter über dem Betonboden des Labors. Armdicke Elektrokabel führten zu ihm, und starke elektrische Felder ließen die Luft in seinem Inneren wie Wasser schimmern.
Kokoschka kehrte durch die Zeit ins Tor zurück und materialisierte sich im riesigen Zylinder. Er hatte an diesem Tag mehrere Zeitreisen unternommen, Stefan an verschiedenen Orten beschattet und endlich in Erfahrung gebracht, weshalb der Verräter so versessen darauf war, in Laura Shanes Leben einzugreifen. Jetzt trat er rasch aus dem Tor, vor dem ihn zwei Wissenschaftler und drei seiner eigenen Leute erwarteten.
»Das Mädchen hat nichts mit den Hochverratsplänen des Hurensohns, nichts mit seinen Versuchen zu tun, das Zeitreiseprojekt zu sabotieren«, stellte Kokoschka fest. »Sein Interesse an ihr ist persönlicher Natur – ein rein privates Unternehmen.«
»Nun wissen wir also, was er alles getan und weshalb er’s getan hat«, sagte einer der Wissenschaftler, »und Sie können ihn liquidieren.«
»Richtig«, bestätigte Kokoschka und trat ans Hauptprogrammierpult. »Nachdem wir jetzt alle Geheimnisse des Verräters aufgedeckt haben, können wir ihn liquidieren.«
Während Kokoschka am Programmierpult saß, um die Koordinaten eines anderen Raum-Zeit-Kontinuums einzugeben, in dem er dem Verräter auflauern konnte, beschloß er, auch Laura umzubringen. Das war keine schwere Aufgabe, die er allein erledigen konnte, weil er das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben würde; er arbeitete ohnehin am liebsten allein, um das Vergnügen nicht mit anderen teilen zu müssen. Laura Shane stellte keine Gefahr für die Staatsführung und deren Pläne zur Umgestaltung der Zukunft der Welt dar, aber er würde zuerst sie umbringen, vor Stefans Augen, damit dem Verräter das Herz brach, bevor er es mit einer Kugel zum Stillstand brachte. Außerdem
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