Der Schutzengel
war heiß, klar und trocken. An den Rändern des Rasens, wo die gemähte Fläche zu den Bäumen hin in eine Naturwiese mit Blumen und Unkraut überging, blühten Hunderte und Aberhunderte von wildwachsenden Blumen. Am Vormittag hatten noch Eichhörnchen im Gras gespielt und Vögel gesungen, aber Lauras Übungsschießen hatte sie erschreckt und vorläufig vertrieben.
Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Laura das Haus in den Bergen mit dem Tod ihres Mannes in Verbindung gebracht und deshalb verkauft hätte. Statt dessen hatte sie vor vier Monaten das Haus im Orange County verkauft und war mit Chris in die San Bernardino Mountains gezogen.
Nach ihrer Überzeugung hätte alles, was ihnen im vergangenen Januar auf der Staatsstraße 330 zugestoßen war, auch anderswo passieren können. Das Haus konnte nichts dafür; die Schuld lag bei ihrem Schicksal, bei den geheimnisvollen Kräften, die ihr seltsam konfliktbeladenes Leben beeinflußten. Eines wußte sie intuitiv: Hätte ihr Beschützer nicht eingegriffen, um ihr auf der verschneiten Straße das Leben zu retten, wäre er zu einem anderen Zeitpunkt, während einer anderen Krise in ihr Leben getreten. Kokoschka wäre dann dort mit einer Maschinenpistole aufgetaucht, und dieselben schrecklichen Ereignisse wären abgelaufen.
Das andere Haus enthielt mehr Erinnerungen an Danny als dieses Gebäude aus Naturstein und Rot-Tannenholz südlich von Big Bear. Hier in den Bergen wurde sie besser mit ihrem Kummer fertig als in Orange Park Acres.
Außerdem fühlte sie sich in den Bergen seltsamerweise weitaus sicherer. In der dichtbevölkerten Stadtlandschaft von Orange County, wo tagtäglich über zwei Millionen Menschen die Straßen und Autobahnen bevölkerten, konnte ein Feind in der Menge untertauchen, bis er anzugreifen beschloß. In den Bergen fielen Unbekannte jedoch vor allem schon deshalb auf, weil Lauras Haus fast genau in der Mitte eines über sieben Hektar großen Grundstückes stand.
Sie hatte die Warnung ihres Beschützers noch im Ohr: Bewaffne dich. Sei auf einen Überfall vorbereitet. Sollten sie eines Tages kommen … wird es eine Gruppe schwerbewaffneter Männer sein.
Nachdem Laura den letzten Schuß aus ihrem Revolver abgegeben und den Gehörschutz abgenommen hatte, hielt Chris ihr sechs weitere Patronen hin. Dann nahm auch er seinen Gehörschutz ab und lief zur Scheibe, um die Treffer zu zählen.
Der Kugelfang bestand aus einer zwei Meter hohen und fünf Meter breiten Mauer aus vierfach hintereinander aufgestapelten Strohballen. Dahinter lagen einige Hektar Kiefernwald – ihr Privatbesitz –, so daß ein so aufwendiger Kugelfang entbehrlich gewesen wäre, aber Laura wollte niemanden erschießen. Zumindest nicht versehentlich.
Chris band eine neue Mannscheibe fest und kam mit der alten zu Laura zurück. »Vier Treffer, Mom. Zwei tödliche, zwei mannstoppende, aber du scheinst ein bißchen nach links abzukommen.«
»Mal sehen, ob sich das korrigieren läßt.«
»Du bist bloß müde, sonst nichts«, stellte Chris fest.
Im Gras um sie herum lagen über 150 leere Patronenhülsen. Lauras Handgelenke, Arme, Schultern und Genick begannen von den vielen Rückstößen zu schmerzen, aber sie wollte noch eine Trommel verschießen, bevor sie für heute aufhörte.
Jenseits des Hauses fiel Thelmas Autotür ins Schloß.
Chris setzte seinen Gehörschutz wieder auf und griff nach dem Fernglas, um die Mannscheibe zu beobachten, während seine Mutter schoß.
Mitleid durchflutete Laura, als sie jetzt den Jungen beobachtete – nicht nur weil er vaterlos war, sondern weil es ihr unfair erschien, daß ein Kind, das erst in zwei Monaten acht wurde, bereits wußte, wie gefährlich das Leben war, und in dem Bewußtsein ständig drohender Gefahr leben mußte. Sie tat alles, damit sein Leben so fröhlich wie möglich verlief; sie erfand noch immer neue Keith-Kröterich-Geschichten, obwohl Chris nicht mehr glaubte, daß Keith tatsächlich existierte; anhand ihrer großen Sammlung klassischer Kinderbücher konnte sie ihm auch zeigen, wieviel vergnügliche Abwechslung Bücher boten; sie bemühte sich sogar, jedes Übungsschießen als Spiel hinzustellen und dadurch davon abzulenken, daß für sie die Notwendigkeit bestand, sich verteidigen zu können. Trotzdem war ihr Leben gegenwärtig beherrscht von der Angst vor dem Unbekannten. Diese Realität ließ sich nicht vor dem Jungen verbergen und würde zwangsläufig gravierende und bleibende Auswirkungen auf ihn haben.
Chris
Weitere Kostenlose Bücher