Der Schutzengel
reglosem Kopf vorbeischauen zu können. Was ihr Beschützer tat, konnte sie nicht genau erkennen; er schien jedoch Kokoschkas Lederjacke aufzureißen.
Nach einiger Zeit kam er mit etwas, das er dem Toten abgenommen hatte, bergauf zurückgehinkt.
Als er den Jeep erreichte, bückte er sich und starrte Laura an. »Ihr könnt rauskommen. Die Gefahr ist vorbei.« Sein Gesicht war blaß, er schien in den letzten Minuten um nicht wenige seiner 25 verlorenen Jahre gealtert zu sein. Er räusperte sich. »Tut mir leid, Laura«, sagte er in einem Tonfall, aus dem ehrliche Reue und tiefes Mitgefühl sprachen. »Mein aufrichtiges Beileid.«
Sie kroch auf dem Bauch zum Heck des Jeeps und stieß sich dabei den Kopf an. Sie zerrte Chris am Arm hinter sich her, damit er nicht zur Frontseite des Jeeps robbte und auf seinen Vater stieß. Ihr Beschützer zog sie unter dem Wagen hervor. Laura lehnte sich im Schnee sitzend an die hintere Stoßstange und hielt Chris an sich gedrückt.
»Ich will Daddy«, sagte der Junge mit zitternder Stimme.
Ich will ihn auch, dachte Laura. Oh, Baby, ich will ihn auch, ich will ihn so sehr, ich wünsche mir nichts mehr auf der Welt als deinen Daddy.
Der Sturm war jetzt zu einem regelrechten Blizzard geworden, der die San Bernardino Mountains mit Schneemassen überschüttete. Der Nachmittag ging zu Ende; das Tageslicht verblaßte, der grimmig graue Tag wurde von der eigentümlich phosphoreszierenden Dunkelheit einer Schneenacht abgelöst.
Bei diesem Wetter würden nur wenige Autofahrer unterwegs sein, aber Stefan fürchtete, daß doch bald jemand vorbeikommen würde. Seit er die Packards angehalten hatte, waren nicht mehr als zehn Minuten vergangen, aber selbst auf dieser Landstraße im Schneesturm konnte es nicht mehr lange dauern, bis jemand an ihnen vorbeifuhr und vielleicht sogar anhielt. Er mußte mit ihr reden und dann verschwinden, bevor er sich in die Konsequenzen dieser mörderischen Begegnung verstrickte.
Stefan ging vor ihr und dem weinenden Jungen in die Hocke und sagte: »Laura, ich muß jetzt fort, aber ich komme bald wieder, ich bin in ein paar Tagen zurück …«
»Wer bist du überhaupt?« fragte sie aufgebracht.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit.«
»Ich will’s aber wissen, verdammt noch mal! Ich habe ein Recht darauf!«
»Ja, das hast du, und du sollst es in ein paar Tagen erfahren. Aber jetzt müssen wir dringend besprechen, was du bei der Polizei aussagen sollst – wie damals im Geschäft deines Vaters. Erinnerst du dich noch?«
»Scher dich zum Teufel!«
»Ich meine es nur gut mit dir, Laura«, sagte er unbeirrt. »Du kannst der Polizei nicht die volle Wahrheit sagen, weil man sie dir nicht abnehmen wird, stimmt’s? Man wird glauben, du hättest alles nur erfunden, vor allem mein Verschwinden … nun, wenn du das erzählst, hält die Polizei dich für die Komplizin eines Mörders oder für geistesgestört.«
Sie schaute ihn wütend an und schwieg. Er hatte Verständnis für ihren Zorn. Vielleicht wünschte sie sich sogar, er wäre tot – aber auch das war verständlich. Hingegen waren die einzigen Gefühle, die sie in ihm hervorrief, Liebe, Mitleid und tiefe Wertschätzung.
»Hör zu, Laura«, forderte er sie auf. »Bei der Polizei sagst du aus, daß hier drei Fahrzeuge standen, als ihr mit eurem Blazer aus der Kurve kamt: der am Straßenrand abgestellte Jeep, der Pontiac auf der falschen Fahrspur, wie er jetzt dasteht, und ein weiteres Auto auf der anderen Straßenseite. Du hast … vier Männer – zwei davon bewaffnet – gesehen, die offenbar den Jeep von der Straße gedrängt hatten. Ihr seid im falschen Augenblick vorbeigekommen, das war euer Pech. Die Männer bedrohten euch mit einer Maschinenpistole und zwangen euch, an den Straßenrand zu fahren und auszusteigen. Du hast mitbekommen, daß sie von Kokain gesprochen haben …, mehr weißt du auch nicht, aber die Männer haben Streit miteinander gehabt, und den Jeepfahrer haben die anderen offenbar verfolgt …«
»Drogenhändler in dieser gottverlassenen Gegend?« sagte Laura verächtlich.
»Hier draußen könnte es illegale Labors geben – ein Blockhaus in den Wäldern, in dem beispielsweise Phencyclidin hergestellt wird. Hör zu, wenn deine Story auch nur halbwegs plausibel klingt, wird man sie dir abnehmen. Die wahre Story ist völlig unglaubwürdig, deshalb mußt du auf sie verzichten. Du sagst also aus, daß die Straße von drei Wagen blockiert war, als die Robertsons – ihren Namen weißt du
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