Der Schutzengel
die Luft jagen. Höchstwahrscheinlich hatten sie die Sprengladungen längst entdeckt und ausgebaut. Aber solange die entfernteste Möglichkeit bestand, das Projekt endgültig zu Fall zu bringen und die Blitzstraße zu sperren, war er moralisch verpflichtet, ins Institut zurückzukehren, selbst wenn das bedeutete, daß er Laura nie mehr wiedersehen würde.
Mit dem Schwinden des Tages schien der Sturm noch an Wut und Kraft zu gewinnen. Auf den Hängen über der Straße heulte und brauste der Wind durch die riesigen Kiefern, die sturmgepeitschten Äste rauschten bedrohlich, als krieche irgendein vielbeiniges, gigantisches Wesen zu Tal. Die Schneeflocken waren klein, fast zu Eiskristallen geworden: Sie schienen die Welt abzuschleifen, sie zu glätten, wie Sandpapier Holz glättet, bis es eines Tages keine Berge und Täler, sondern nur eine einförmige, hochglanzpolierte Ebene geben würde, so weit das Auge reichte.
Mit seiner Hand unter Jacke und Hemd drückte Stefan dreimal rasch auf den gelben Knopf und löste so den Strahl aus. Von Angst und Bedauern erfüllt kehrte er in seine eigene Zeit zurück.
Sie hielt Chris, dessen Schluchzen abgeklungen war, in den Armen, saß hinter dem Jeep und beobachtete, wie ihr Beschützer am Heck von Kokoschkas Pontiac vorbei ins Schneetreiben davonging.
Er blieb mitten auf der Straße stehen und kehrte ihr für lange Augenblicke scheinbar unbeweglich den Rücken zu. Dann geschah etwas Unglaubliches: Als erstes wurde die Luft schwer; Laura spürte einen seltsamen, nie zuvor wahrgenommenen Druck, als ob die Erdatmosphäre durch irgendeine kosmische Umwälzung komprimiert werde, und hatte plötzlich Mühe beim Atemholen. Die Luft roch auch eigenartig, aber irgendwie vertraut, und sie brauchte einige Sekunden, um den Geruch überhitzter Elektrokabel und verschmorter Isolierung zu erkennen, den sie vor einigen Wochen in ihrer eigenen Küche wahrgenommen hatte, als der Toaster einen Kurzschluß gehabt hatte; überlagert wurde dieser Gestank durch leicht stechenden, aber nicht unangenehmen Ozongeruch, den sie von heftigen Gewittern kannte. Der Druck wuchs, bis sie sich fast zu Boden gepreßt fühlte, die Luft flimmerte und schimmerte wie Wasser. Mit einem Geräusch, als werde ein riesiger Korken aus einer Flasche gezogen, verschwand ihr Beschützer aus dem grauen Zwielicht des Winterabends, und zugleich mit diesem Plop ! spürte Laura einen starken Windstoß, als strömten große Luftmassen heran, um irgendein Vakuum auszufüllen. Tatsächlich fühlte sie sich einen Augenblick lang in einem Vakuum gefangen, ohne atmen zu können. Dann ließ der auf ihr lastende Druck nach, die Luft roch nur mehr nach Wald und Schnee, und alles war wieder normal.
Bis auf die Tatsache natürlich, daß ihr nach dem jetzt Erlebten nie wieder etwas normal erscheinen würde.
Die Nacht wurde sehr finster. Ohne Danny war es die finsterste Nacht ihres Lebens. Nur ein Licht blieb, um ihr den mühevollen Weg zu einem vielleicht in Zukunft zu erhoffenden Glück zu weisen: Chris. Er war das letzte Licht im Dunkel ihres Lebens.
Später wurde ein bergab fahrendes Auto sichtbar. Scheinwerfer bohrten sich durch Nacht und dichtes Schneetreiben.
Sie kam mühsam auf die Beine und schleppte sich mit Chris in die Straßenmitte. Sie winkte.
Als das Fahrzeug abbremste, fragte sie sich plötzlich, ob nicht gleich noch ein Mann mit einer Maschinenpistole aussteigen und das Feuer eröffnen würde. Sie würde sich nie mehr sicher fühlen können.
Das innere Feuer
Am 13. August 1988, einem Samstag, sieben Monate nach der Ermordung Dannys, kam Thelma Ackerson für vier Tage in das Haus in den San Bernardino Montains.
Laura war auf der Schießbahn hinter dem Haus und übte mit ihrem Smith & Wesson Chiefs’s Special Kaliber 38. Sie hatte eben nachgeladen, die Trommel einschnappen lassen und wollte ihren Gehörschutz aufsetzen, als sie ein Auto die lange kiesbestreute Zufahrt von der Staatsstraße heraufkommen hörte. Sie nahm das Fernglas von dem Tischchen neben sich und beobachtete das Fahrzeug, um sich davon zu überzeugen, daß kein unerwünschter Besucher käme. Als sie Thelma am Steuer erkannte, legte sie ihr Fernglas weg und schoß weiter auf die an als Kugelfang dienenden Strohballen befestigte Mannscheibe.
Chris, der in der Nähe im Gras saß, zählte sechs weitere Patronen aus der Munitionsschachtel ab und hielt sich bereit, sie ihr zu geben, sobald sie den letzten Schuß dieser Serie abgefeuert haben würde.
Der Tag
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