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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Problem.«
    »Ich will dir keine Umstände machen«, sagte Leon. Ich bin hier, um meinen Vater unters Eis zu bringen, dachte er. Und um dann schleunigst wieder zu verschwinden.
    »Du machst keine Umstände«, sagte Akesuk. »Du bist mein Neffe. Wie lange hast du dich eingebucht?«
    »Zwei Nächte. Ich denke, das reicht, oder?«
    Akesuk legte die Stirn in Falten und musterte ihn von oben bis unten. Dann nahm er Anawak beim Arm und zog ihn in die Halle.
    »Da reden wir nochmal drüber. Hast du keinen Hunger?«
    »Doch.«
    »Wunderbar. Mary-Ann hat ein Karibu-Stew gemacht, und es gibt Robbensuppe mit Reis. Ganz was Feines. Wann hast du so was das letzte Mal gegessen, Robbensuppe, hm?«
    Anawak ließ sich mitschleppen. Vor dem Flughafengebäude parkten mehrere Fahrzeuge. Akesuk steuerte zielstrebig auf einen Pick-up zu.
    »Leg deinen Rucksack hinten drauf. Kennst du Mary-Ann? Natürlich nicht. Du warst schon weg, als sie von Salluit rüberzog und wirgeheiratet haben. Es war ja nicht zum Aushalten mit dem Alleinsein. Sie ist jünger als ich. Das finde ich ganz in Ordnung, muss ich dir sagen. Hast du eine Frau? Du lieber Himmel, was werden wir uns alles zu erzählen haben nach der Ewigkeit, die du nicht mehr hier warst.«
    Anawak rutschte auf den Beifahrersitz und schwieg. Akesuk schien beschlossen zu haben, ihn in Grund und Boden zu reden. Er versuchte sich zu erinnern, ob der Alte früher auch so gesprächig gewesen war.
    Dann kam ihm der Gedanke, dass sein Onkel möglicherweise ebenso nervös war wie er.
    Der eine schwieg. Der andere redete. Jeder hatte seinen Weg.
    Sie rumpelten die Hauptstraße entlang. Cape Dorset war durch diverse Höhenzüge in Ortschaften gegliedert. Dem eigentlichen Kinngait schlossen sich Itjurittuq im Nordosten, Kuugalaaq im Westen und Muliujaq im Süden an. Gewohnt hatten sie damals in Kuugalaaq. Seine, Anawaks Familie, hatte dort gelebt. Akesuk, der Bruder seiner Mutter, war in Kinngait zu Hause gewesen.
    Anawak fragte ihn nicht, ob er immer noch dort wohnte. Er würde es ohnehin herausfinden.
    Sie kurvten durch den ganzen Ort. Sein Onkel erläuterte nahezu jedes Gebäude, an dem sie vorbeifuhren, bis Anawak schlagartig klar wurde, dass Akesuk eine Ortsbesichtigung mit ihm vornahm.
    »Onkel Iji, ich kenne das alles«, sagte er.
    »Nichts kennst du. Du warst 19 Jahre nicht mehr hier. Alles Mögliche ist neu. Da drüben, erinnerst du dich an den Supermarkt?«
    »Nein.«
    »Siehst du. Wie auch? Alles neu! Und wir haben noch einen größeren dazubekommen. Früher sind wir immer zum Polar Supply Store gegangen, das hast du doch nicht vergessen, oder? – Da hinten ist unser neues Schulgebäude, na, so neu ist es auch wieder nicht, aber für dich ja schon. – Guck mal rechts! Das kannst du gar nicht kennen, die Tikta-liktaq-Festhalle. Weißt du, wer da schon alles zum Throat Singing war und zum Trommeltanz? Bill Clinton und Jaques Chirac und Helmut Kohl, das war übrigens ein Riese, dieser Kohl, wir sahen daneben aus wie Zwerge, wann war der noch hier, warte mal... ?«
    Und so weiter und so fort. Sie besichtigten die anglikanische Kirche mit dem Friedhof, auf dem sein Vater beerdigt werden sollte. Anawak sah eine Inuit-Frau vor ihrem Haus an einer Skulptur arbeiten, die einen riesigen Vogel zeigte. Das Wesen erinnerte ihn an die Kunst der Nootka. Ein zweistöckiges, blaugraues Gebäude mit futuristischem Eingangsbereich erwies sich als Regierungssitz. Die dezentralisierteVerwaltung Nunavuts führte dazu, dass in jeder größeren Gemeinde ein solches Gebäude zu stehen hatte. Anawak ergab sich in sein Schicksal, zumal er feststellte, dass das Cape Dorset seiner Kindheit tatsächlich ein anderes gewesen war als dieses.
    Und plötzlich hörte er sich sagen:
    »Fahr zum Hafen, Iji.«
    Akesuk riss das Steuer herum. Sie bretterten über eine abschüssige Straße in Richtung Wasser. Holzhäuser aller Größen und Farben verteilten sich scheinbar ungeordnet über die schwarzbraune Landschaft. Vereinzelt waren ein paar Flecken robusten Tundragrases zu sehen, hier und da eine Schneefläche. Cape Dorsets Hafen war wenig mehr als ein Pier mit Verladekränen, wo ein- bis zweimal im Jahr das Versorgungsschiff mit überlebenswichtigen Gütern vor Anker ging. Unweit davon konnte man bei Ebbe das Tellik Inlet durchqueren, um auf die Nachbarinsel zu gelangen – nach Mallikjuaq, zu jenem kleinen Nationalpark mit seinen Gräbern und dem Kajakstand und dem See, an dem sie so oft ihr Camp aufgeschlagen hatten.
    Sie

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