Der Schwarm
Wenig später fasste neues Leben dort Fuß. Eine komplexe, intelligente Zivilisation, schlussfolgerte Johanson, würde sich dennoch kaum in einer derartigen Zone ansiedeln.
Der zweite Grund war, dass die Chance der Kontaktaufnahme wuchs, je näher man den Yrr kam. Wo genau sie zu finden waren, darüber gingen die Meinungen auseinander. Jeder hatte wahrscheinlich auf seine Weise Recht. Einiges sprach dafür, dass sie im Benthos lebten, in den tiefsten Meeresregionen. Viele Phänomene der jüngeren Zeit waren in unmittelbarer Nähe solcher Tiefseegräben aufgetreten. Ebenso viel sprach für die Abyssale, die gewaltigen Tiefseebecken, und natürlich waren Rubins Hinweise auf die Leben spendende Umgebung der mittelozeanischen Oasen nicht von der Hand zu weisen. Am Ende hatte Johanson darum vorgeschlagen, das Augenmerk nicht auf den natürlichen Lebensraum der Yrr zu lenken, sondern eine Stelle auszuwählen, an der sie definitiv sein mussten.
In der Grönländischen See war der Absturz der kalten Wassermassen gestoppt worden. Als Folge erlahmte der Golfstrom. Nur zwei Ursachen konnten dieses Phänomen erklären: eine unmittelbare Erwärmung des Meeres oder ein Überangebot an Süßwasser, das von der Arktis südwärts floss und das salzige Nordatlantikwasser verdünnte, sodass es zu leicht wurde um abzustürzen. Beides deutete auf eine rege und umfangreiche Manipulation der Verhältnisse vor Ort hin. Irgendwo in der Arktis waren die Yrr damit beschäftigt, diese ungeheuren Umwälzungen voranzutreiben.
Irgendwo ganz in der Nähe.
Blieb der Sicherheitsaspekt. Selbst Bohrmann, der sich angewöhnt hatte, das Schlimmste zu befürchten, räumte ein, dass die Gefahr durch einen Methan-Blowout im grönländischen Tiefseebecken eher gering war. Bauers Schiff hatte es in Landnähe vor Svalbard erwischt, wo massenhaft Hydrat im Kontinentalhang lagerte. Unter dem Kiel der Independence erstreckten sich jedoch dreieinhalbtausend Meter Wassertiefe. So weit unten lagerte vergleichsweise wenig Methan, jedenfalls kaum genug, um ein Schiff von der Größe der Independence zu versenken. Dennoch, für alle Fälle, hatte die Independence im Verlauf ihrer Fahrt regelmäßige seismische Messungen durchgeführt, um Methanvorkommen im Meeresboden nachzuweisen, und auf diese Weise einen Standort gefunden, der weitgehend frei davon schien. Selbst einTsunami, wie hoch er an Land auch werden mochte, würde sich hier draußen kaum bemerkbar machen – sofern nicht La Palma abrutschte.
Aber dann war ohnehin alles zu spät.
Aus diesen Gründen waren sie nun hier, im ewigen Eis.
Sie saßen in der riesigen, gähnend leeren Offiziersmesse bei Rühreiern und Speck. Anawak und Greywolf fehlten. Johanson hatte nach dem Weckruf einige Minuten mit Bohrmann telefoniert, der in La Palma eingetroffen war und den Einsatz des Saugrüssels vorbereitete. Die Kanaren lagen eine Zeitzone zurück, aber Bohrmann war schon mehrere Stunden auf den Beinen gewesen.
»Ein 500 Meter langer Staubsauger macht nun mal Arbeit«, hatte er lachend gesagt.
»Saugen Sie auch in den Ecken«, empfahl Johanson.
Er vermisste den Deutschen. Bohrmann war ein feiner Kerl. Andererseits mangelte es an Bord der Independence nicht an bemerkenswerten Persönlichkeiten. Gerade unterhielt er sich mit Crowe, als Floyd Anderson hereinkam, der Erste Offizier. Er trug einen topfgroßen Thermosbecher mit der Aufschrift USS Wasp LHD-8 vor sich her, ging hinüber zur Getränkebar und füllte ihn randvoll mit Kaffee.
»Wir haben Besuch«, bellte er in die Runde.
Alle schauten ihn an.
»Kontakt?«, fragte Oliviera.
»Das wüsste ich.« Crowe schob gelassen eine Riesenportion Speck in den Mund. Im Aschenbecher qualmte ihre dritte oder vierte Zigarette. »Shankar sitzt im CIC. Er hätte uns informiert.«
»Was dann? Ist jemand gelandet?«
»Kommen Sie raus aufs Dach«, sagte Anderson geheimnisvoll. »Dann sehen Sie's.«
Flugdeck
Draußen legte sich eine Maske aus Kälte über Johansons Gesicht. Der Himmel war von diffusem Weiß. Graue Wellen schoben sich zu gischtigen Kämmen auf. Der Wind hatte über Nacht zugelegt und blies stecknadeldünne Eiskristalle über die asphaltierte Fläche des Decks. Johanson sah eine Gruppe dick vermummter Personen an der Steuerbordseite stehen. Im Näherkommen erkannte er Li, Anawak und Greywolf. Gleich darauf wurde ihm klar, was ihre Aufmerksamkeit fesselte.
In einigem Abstand zur Independence schoben sich die Silhouetten spitz zulaufender Schwerter
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