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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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»Warum sonst hat er sich für den Tod seines Vaters rächen wollen?«
    »Die Geschichte sagt nicht, dass er richtig gehandelt hat.«
    Anawak gab Greywolf die Zeremonienkeule zurück, griff in seinen Anorak und förderte die Skulptur des Vogelgeists zutage.
    »Kannst du mir auch dazu was erzählen?«
    Greywolf betrachtete das Stück. Er nahm es in die Hände und drehte es.
    »Das stammt nicht von der Westküste«, sagte er.
    »Nein.«
    »Marmor. Es kommt ganz woanders her. Aus deiner Heimat?«
    »Cape Dorset.« Anawak zögerte. »Ich habe es von einem Schamanen bekommen.«
    »Du lässt dir was von einem Schamanen schenken?«
    »Er ist mein Onkel.«
    »Und was hat er dir dazu erzählt?«
    »Wenig. Er meinte, der Vogelgeist würde meine Gedanken in dierichtige Richtung tragen, wenn es so weit wäre. Und er sagte, dass ich dafür möglicherweise einen Mittler brauche.«
    Greywolf schwieg eine Weile.
    »Es gibt Vogelgeister in allen Kulturen«, sagte er. »Der Donnervogel ist ein alter indianischer Mythos, er repräsentiert viele Facetten. Er ist Teil der Schöpfung, ein Naturgeist, ein höheres Wesen, aber er steht auch für die Identität eines Clans. Ich kenne eine Familie, die ihren Namen auf einen Donnervogel zurückführt, den ihre Vorfahren einst auf dem Gipfel eines Berges in der Nähe von Ucluelet gesehen haben. Aber es gibt noch andere Bedeutungen für Vogelgeister.«
    »Sie tauchen immer in Verbindung mit Köpfen auf, nicht?«
    »Ja. Erstaunlich, was? Auf alten ägyptischen Darstellungen findest du oft das Bild eines vogelähnlichen Kopfschmucks. Dort hat der Vogelgeist die Bedeutung von Bewusstsein. Es ist im Schädelraum gefangen wie in einem Käfig. Sobald der Schädel geöffnet wird – im übertragenen Sinne –, kann es entkommen, aber du kannst es auch wieder zurück in den Schädel locken. Dann bist du wieder bei Bewusstsein oder wach.«
    »Das heißt, im Schlaf geht mein Bewusstsein auf Reisen.«
    »Du träumst, aber deine Träume sind keine Phantasien. Sie zeigen dir, was das Bewusstsein in den höheren Welten sieht, die dir normalerweise verborgen bleiben. Hast du mal die Federkrone eines Cherokee-Häuptlings gesehen?«
    »In Wildwestfilmen, um ehrlich zu sein.«
    »Macht nichts. Mit der Federkrone bringt er zum Ausdruck, dass sein unsichtbarer Geist in seinem Kopf Feder um Feder Gestalten schreibt. Einfacher gesagt, der Kopf hatte eine Reihe guter Einfälle, und darum ist er Häuptling.«
    »Die beflügelten Gedanken.«
    »Durch Federn, ja. Bei anderen Stämmen reicht oft eine einzige Feder, sie hat dieselbe Bedeutung. Der Vogelgeist repräsentiert das Bewusstsein. Darum durften Indianer auf keinen Fall ihren Skalp oder ihre Skalpfeder verlieren, weil sie zugleich ihr Bewusstsein verloren, schlimmstenfalls für immer.« Greywolf runzelte die Brauen. »Wenn ein Schamane dir diese Skulptur gegeben hat, dann hat er dich auf dein Bewusstsein hingewiesen, auf die Kraft deiner Ideen. Du sollst sie nutzen, aber dafür musst du deinen Geist öffnen. Er muss auf Wanderschaft gehen, und das heißt, er muss sich mit dem Unbewussten zusammenschließen.«
    »Warum hast du eigentlich keine Feder im Haar?«
    Greywolf verzog die Mundwinkel.
    »Weil ich, wie du so treffend bemerkt hast, kein richtiger Indianer bin.«
    Anawak schwieg.
    »Ich hatte einen Traum in Nunavut«, sagte er nach einer Weile.
    Greywolf erwiderte nichts.
    »Sagen wir, mein Geist ging auf Reisen. Ich sank durch das Meereis in die schwarze See. Dann verwandelte sich die See in einen Himmel, und ich stieg einen Eisberg hinauf, bis ich sehen konnte, dass er im blauen Meer trieb. Nach allen Seiten war nichts als Wasser. Wir reisten zusammen über dieses Meer, und ich dachte, der Eisberg wird schmelzen. Komisch, ich empfand keine Angst, nur Neugierde. Ich wusste, dass ich versinken würde, wenn es so weit war, aber ich fürchtete nicht zu ertrinken. Es kam mir eher so vor, als ob ich eintauchen würde in etwas Neues, Unbekanntes.«
    »Was hast du erwartet, dort unten vorzufinden?«
    Anawak dachte nach.
    »Leben«, sagte er.
    »Was für Leben?«
    »Ich weiß nicht. Einfach nur Leben.«
    Greywolf blickte auf die kleine, grüne Marmorskulptur des Vogelgeists in seiner riesigen Hand.
    »Mal ehrlich, warum sind wir eigentlich an Bord, Licia und ich?«, fragte er unvermittelt.
    Anawak schaute aufs Meer hinaus.
    »Weil man euch braucht.«
    »Nicht wirklich, Leon. Mich vielleicht, weil ich mit Delphinen zurechtkomme, aber ebenso gut hättet ihr jeden

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