Der schwarze Dom
selbst die schlechtesten Schüler von Freud hätten das Rätsel in nur einer Minute gelöst. Im vergangenen Sommer war er mit Joe Travers tief in die Wüste hineingewandert.
Als sie losmarschierten, war das Wetter gut, doch spätabends erwischte sie ein Sturm. Bis zum heutigen Tag nahmen ihm die Leute das nicht ab, aber Carl schwor Stein und Bein, daß in weniger als dreißig Minuten mehr als fünfzehn Zentimeter Niederschlag gefallen waren. Es war so, wie in der Mitte des Bermudadreiecks von einem Hurrikan erwischt zu werden.
Auf dem Weg zu einem Unterschlupf durchquerten sie gerade eine Schlucht als ein alter Biberdamm oder irgend etwas höher in der Schlucht, gebrochen sein mußte und eine Flutwelle hinabstürzte, die Joe einfach wegspülte. Carl konnte sich gerade noch auf die andere Seite in Sicherheit bringen. Er versuchte, Joe zu retten. Er tauchte unter und schwamm hinter Joe her. Er riß sich dabei sogar an einem Felsblock die Seite auf. Obwohl die Flut reißend war, rechnete er nicht ernsthaft damit, daß Joe ertrinken würde. Gott noch mal: Sie waren doch mitten in der Wüste.
Aber er konnte nichts machen; Joe ertrank oder erstickte. Seine Leiche fanden sie allerdings erst ein paar Monate später. Die Flut hatte sie unter einem Wust von Schmutz und abgestorbenen Sträuchern begraben, und die Insekten und das Wetter hatten ihr schon zugesetzt, als ein Ranger über einen fleischlosen Finger stolperte, der aus dem ausgedörrten Schlamm zum grellen Himmel zeigte. Nur das Skelett war von ihm übrig, aber der Beamte, der den Todesfall untersuchte, sagte, es sei ohne Zweifel Joe.
Also hatte Carl seine Alpträume und brauchte sich nicht zu wundern, wieso.
Und doch fragte und fragte er sich, warum die Flut genau in dem Augenblick losgebrochen war, als sie durch die Schlucht kletterten. In der Wüste gab es keine Biber oder Biberdämme. Es gab nur Sand und Echsen, sonst nichts.
Carl stieg aus dem Bett, ging ins Bad und duschte kalt.
Durch das Schlafzimmerfenster hindurch hatte ihn die brütende Sonne schon davon überzeugt, daß es heiß werden würde.
Nach dem Waschen zog er sich an und schaute kurz in der Küche nach etwas zu essen. Er glaubte nicht, daß irgend etwas zu finden sein würde. Sein Vater war Fernfahrer und seit einer Woche nicht nach Hause gekommen. Was seine Mutter machte, wußte er nicht, aber sie war schon seit acht Jahren nicht mehr nach Hause gekommen. Allerdings schickte sie zu Weihnachten Geld – ein paar hundert Dollar jedesmal. Er nahm an, daß es ihr gutging. Er hatte ein freizügiges Familienleben: Er ging seinem Vater aus dem Weg, sein Vater ging ihm aus dem Weg, und damit kamen beide gut klar. Er kümmerte sich um sich selbst. Er brauchte das Geld von seiner Mutter nicht. Er arbeitete als Mechaniker an einer Tankstelle im Ort und er war gut in seinem Job. Aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt etwas zu essen eingekauft hatte. In letzter Zeit war er nicht besonders hungrig gewesen.
Im Kühlschrank lag eine schwarze Banane. Beinahe hätte er sie weggeworfen, aß aber schließlich doch die Teile, die ihm noch brauchbar erschienen. In einem Regal fand er immerhin eine Packung Cracker. Er aß ein paar davon und trank dazu ein Glas Wasser, als er bemerkte, daß der Anrufbeantworter blinkte.
Sein Vater hatte das Gerät aus beruflichen Gründen gekauft.
Es war das neueste Teil im Haus und eines der teuersten – es hatte hundert Dollar gekostet. Carl spulte das Band zurück und drehte die Lautstärke herunter. Die Nachrichten, die die Arbeitskollegen seines Vaters hinterließen, enthielten gewöhnlich mindestens zehn Obszönitäten.
»Hi Carl, hier ist Tracie White. Ich hoffe, ich rufe nicht zu spät an. Es ist Donnerstag abend, Viertel nach zehn. Ich rufe an, weil ich dich fragen wollte, ob du Lust hast, bei der Schnitzeljagd in unserer Gruppe mitzumachen. Bis jetzt sind Rick, Paula und ich dabei. Wir finden, du wärst eine echte Verstärkung. Ruf mich an, wenn du kannst. Meine Nummer ist fünf-fünf-fünf-neun-drei-sieben-zwo. Also, mach’s gut, und hoffentlich sehen wir uns bald.«
Die Nachricht ließ Carl lächeln.
Tracie war ein nettes Mädchen. Er war eine Weile in sie verliebt gewesen. Sie war schlank, hatte knallrotes Haar, neckische Sommersprossen und ein zuckersüßes Lächeln. Als sie sich am Anfang der High-School begegnet waren, hatte er geglaubt, sie würden gute Freunde werden. Aber sie entfernten sich wieder und sprachen jetzt kaum noch
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