Der schwarze Engel
manchen Menschen täuschen konnte, und dass Delicia es ihr nicht wert
wäre, jetzt weiter darüber nachzudenken. Dann ist sie in ihr Zimmer
verschwunden und wollte zu Bett gehen. Nach diesem Vorfall hat Delicia uns eine
ganze Weile nicht mehr besucht und soweit ich weiß, hatten die beiden Mädchen
eine Zeit lang keinen Kontakt mehr zueinander.“
Sharon zog die Augenbrauen hoch.
Dann schien dieser Streit doch ernster gewesen zu sein, als Delicia es hatte
zugeben wollen: „Haben sich die beiden denn wieder versöhnt?“
„Soweit ich weiß, ja. Delicia war
dann irgendwann wieder dabei, wenn sie mit mehreren Freunden weggegangen sind,
und sie war auch mal wieder hier.“
Sharon nickte. Dann entsprach
Delicias Aussage wohl im Großen und Ganzen der Wahrheit, auch wenn der Zeitraum
der Versöhnung etwas länger gewesen war, als nur ein paar Minuten.
Sie bedankte sich bei Mrs.
Fernandez und machte sich auf den Weg zu Dawson. Es wurde Zeit, den
Verdächtigen festzunehmen und dem Polizeichef zu übergeben, der persönlich ein
eindringliches Verhör mit ihm durchführen würde. Sharon war erleichtert, dass
sie den Täter endlich gefunden hatte. In dem Verhör würden die Einzelheiten
seiner Tat ans Licht kommen. Es gab genug Zeugen, die Aussagen zu seiner Schuld
vorbringen konnten und man würde vermutlich auch noch einige weitere auftreiben.
Entschlossen stieg Sharon die
Treppen hinauf zu Dawsons Wohnung. Ihr Herz klopfte etwas schneller, als sonst.
Sie hoffte, das Ganze schnell über die Bühne, und ihn schon in wenigen Minuten
in ihrem Auto zum Revier bringen zu können. Sharon klingelte direkt an der
Wohnungstür. Sie hatte hinter einem Bewohner in das Haus schlüpfen können,
bevor die Tür zugefallen war. Nun stand sie direkt vor Dawsons Wohnung.
Nachdem sich einige Sekunden lang
keine Reaktion gezeigt hatte, rief sie: „Hier ist Sharon Ang, FBI!“
Hinter der Tür regte sich nichts.
Kein Geräusch, keine Schritte. Frustriert atmete Sharon tief aus. So wie es
aussah, war er nicht da. Vielleicht aber versteckte er sich und tat nur so, als
ob er nicht da wäre, weil er damit rechnete, dass man seine falschen Aussagen
aufgedeckt hatte und es jetzt kein Entkommen mehr für ihn gab.
Eilig lief Sharon die Treppen
hinunter in das erste Stockwerk und klingelte an der Tür des Hausmeisters. Ein
genervter, dickbäuchiger, älterer Mann in einem Jogginganzug folgte ihr zu
Dawsons Wohnung, um diese aufzuschließen. Sofort verschwand er wieder. Im
Fernsehen lief irgendein Fußballspiel, das er sich gerade ansah.
Sharon betrat die Wohnung und ihr
erster Weg führte sie ins Wohnzimmer, wo sich Dawson immer aufhielt. Dabei stieg
sie über Pizzareste und leere Chipstüten, über schmutzige Kleidungsstücke und
abgefackelte Zigarettenstummel. Als sie ins Wohnzimmer trat, blieb sie
ruckartig stehen und erschrak zutiefst. Mit fast allem hatte sie gerechnet,
aber nicht damit.
Schnell lief sie auf Dawson zu und
fühlte seinen Puls. Sein Körper war kalt und kein Lebenszeichen war mehr
wahrzunehmen. Sie durchschnitt den Gürtel mit einem kleinen Taschenmesser, das
zu ihrem Standardequipment gehörte. Der Körper fiel stumpf auf den Boden. Sharon
nahm ihr Mobiltelefon zur Hand und wählte eine Nummer: „Sharon Ang, FBI. Wir
brauchen einen Leichenwagen in die Alabama Street 36, die Wohnung von Dawson
Clark, ein Selbstmord.“
Sie steckte das Telefon zurück in
ihre Tasche und warf noch einen kurzen Blick auf ihren toten Täter. Dann drehte
sie sich um und machte sich eilig daran, diesen grotesken Ort zu verlassen.
Tausend Gedanken schossen ihr
durch den Kopf, während sie zum Revier fuhr, um dort ihren Bericht fertig zu
schreiben. Es würde kein Verhör geben und keine Anklage. Der Täter hatte
Selbstjustiz geübt und sich das Leben genommen. Das war kein gutes Ende für
einen Fall. Natürlich blieb so vieles erspart - keine Gerichtsverhandlung,
keine Befragungen. Aber ebenso blieb vieles offen. Was war an dem Abend von
Lenanes Tod wirklich geschehen? Dieses Geheimnis hatten Opfer und Täter mit
sich genommen und man würde es wahrscheinlich nie erfahren.
Wenn Sharon darüber nachdachte,
wunderte sie nicht wirklich über den aktuellen Verlauf der Ereignisse. Der
Junkie hatte gewusst, dass man ihm auf die Schliche kommen würde, er hatte
gewusst, dass er verurteilt werden würde und den Rest seines Lebens hinter
Gittern verbringen hätte müssen. Vielleicht kamen Schuldgefühle hinzu, weil er
die Taten möglicherweise unter
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