Der schwarze Kanal
verkehrsberuhigter Innenstadtlage lebt, auch wenn die meisten Medien in Deutschland so tun (und in zunehmendem Maße die Volksvertreter in den Parteien). Die Mehrheit wohnt wie die Wulffs, in einem Reihenhaus in Randlage, mit Buchsbaum und Begonien im Garten und einem halbhohen Zaun, der das Grundstück von Straße und Nachbarn trennt. Deshalb ist es alles andere als verwunderlich, dass sie sich in dem Mann wiedererkannten, der im Schloss Bellevue residierte – und wenn man die Zeichen richtig deutet, auch in seiner Neigung, ganz genau darauf zu achten, wo sich noch etwas sparen lässt.
Die Wulff-Affäre ist nach acht Wochen endgültig auf der Ebene der Stilkritik angekommen. Aber dahin zielte sie im Grunde schon die ganze Zeit. Vielen erschien Wulff immer zu bieder für das Präsidentenamt, zu kleinbürgerlich in seinen Ansprüchen, ein Aufsteiger aus einem Milieu, das zu verachten in Deutschland Tradition hat, jedenfalls in den Schichten, die hierzulande den Ton angeben. Die intellektuelle Klasse hat dem Kleinbürger nie Sympathien entgegengebracht, anders als dem Arbeiter oder auch dem Habenichts. Der Kleinbürger gilt ihr als Minusvariante des Bürgers, ein Mensch von beschränktem Format. Klein, eng, verstellt ist seine Welt, Hort des Betulichen und Beschränkten, wo man am Wochenende den Rasen mäht, Schnittblumen zum Muttertag schenkt und seinen Hund «Momo» nennt, alles Dinge, über die man in Hamburg-Eppendorf oder dem Prenzlauer Berg in Berlin nur die Nase rümpfen kann.
Von der Verachtung der Eliten hat schon Helmut Kohl profitiert. Ganze Generationen von Journalisten haben sich über seine Sprache lustig gemacht, die Münzsammlung auf dem Schreibtisch, die Vorliebe für einfache Hausmannskost. Sie konnten in ihm immer nur den Gimpel erkennen, das Trampel, den Tor. Nur übersahen sie dabei, dass sich die meisten Menschen in Deutschland im Spott über das Provinzielle mitverspottet sahen. So saß Kohl nach jeder Wahl einfach weiter neben seinem Fischtank, trank seinen Pfälzer Riesling und telefonierte sich durch die Welt, bis man sich am Ende gar nicht mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte.
Am Ende wurden die Vorwürfe gegen Wulff immer kleiner. Zuletzt galt schon das Geschenk eines Autohändlers für den Sohn als skandalisierungswürdiger Vorgang. Dabei liegt die eigentliche Spießigkeit möglicherweise darin, den Wert jedes ungerechtfertigten Upgrades nachrechnen zu wollen. Wer zu kleinlich wird, macht sich auch selber klein, das ist nahezu unvermeidbar.
[zur Inhaltsübersicht]
Wer hat Angst vor Alice?
Was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, liegt Nordrhein-Westfalen seit dem rot-grünen Wahlsieg 2010 weit vorn. Um eine «geschlechtersensible Erziehung» zu gewährleisten, werden alle Unterrichtsmaterialien auf «Ausgewogenheit und Rollenmuster bei der Darstellung von Frauen und Männern» überprüft, ganz so wie es die Grünen in ihrem Wahlprogramm versprochen hatten. Im Verwaltungsalltag gelten die Regeln des «Gender budgeting», also die strenge Quotierung bei allen öffentlichen Ausgaben, damit sich niemand zurückgesetzt fühlt. Selbstverständlich ist die Regierung auch bemüht, Gesetze und Vorschriften des Landes in «geschlechtergerechter Sprache» umzusetzen, wobei das vom eigens ins Leben gerufene Emanzipationsmininisterium angebotene «Gendering Add-In» für Microsoft Word eine fabelhafte Hilfe bietet.
Was liegt bei so viel emanzipatorischem Eifer näher als die dankbare Reverenz an eine der Ikonen der Gleichberechtigung? Seit Alice Schwarzer in Köln Quartier bezog und von dort ihre «Emma» in die Republik zu verschicken begann, dürfen einmal nicht nur Frankfurt oder Berlin als Ausgangspunkt einer Befreiungsbewegung gelten. Grund genug, stolz zu sein auf dieses Stück revolutionärer Geschichte, sollte man meinen. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie sich mit etwas Verspätung, aber dafür umso eindrucksvoller zeigt. Statt die deutsche Mutter des Feminismus für ihren Einsatz zu würdigen, hat die neue Landesregierung, angeführt von der grünen Emanzipationsministerin Barbara Steffens, die staatlichen Zuschüsse für Schwarzers feministisches Archiv rückwirkend um zwei Drittel gekürzt. Anstelle von 210000 Euro, wie mit der CDU -geführten Vorgängerregierung vereinbart, gibt es seit Anfang des Jahres nur noch 70000 Euro, und auch diese Finanzierung steht auf wackligen Füßen, wenn man die Einlassungen der neuen Amtsinhaber in Düsseldorf richtig
Weitere Kostenlose Bücher