Der Schwarze Mandarin
Positionen zeigte. So ein Magazin war zwar verboten, galt als dekadente Pornographie, und der Besitz wurde hart bestraft, aber einen Chauffeur des Herrn Cheng schleppte kein Polizist mit hartem Griff ab. Deshalb hatte Shijie auch keine Angst, denn die Magazine stammten aus dem Besitz des Herrn Cheng, der mit solchen Fotos ab und zu weibliche Gäste animierte. Zeitungsmeldungen, vor allem aus Guangzhou, die über auf frischer Tat ertappte Pornohändler berichteten, die öffentlich im Fußballstadion mit einem Genickschuß hingerichtet wurden, überflog Herr Cheng mit großem Desinteresse. Er kannte höchste Parteigenossen, deren Freizeitvergnügen es war, im trauten Kreis die neuesten Pornofilme aus Hongkong vorzuführen, oftmals vor geladenen jungen Mädchen. Ein solches Wissen macht immun gegenüber dem Gesetz und steigert den eigenen Wert bis zur Unverwundbarkeit.
Shijie gab sich deshalb auch keine Mühe, das bunte Magazin zu verstecken. Er faltete es in der Mitte zusammen und steckte es in das Handschuhfach des Autos.
Cheng Zhaoming ließ sich auf das Polster des Rücksitzes fallen und setzte eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern auf. Es war ein warmer Abend. Kunming, die Stadt des ewigen Frühlings, bereitete sich auf einen heißen Sommer vor, wenn der Mai schon so drückend war.
»Wohin, Herr Cheng?« fragte Shijie und beobachtete Cheng im inneren Rückspiegel.
»Zum Jin Long Fan Dian.«
Der Chauffeur nickte, wartete, bis eine alte Frau, die sich um die Wäsche kümmerte, das große schwere Holztor aufgestoßen hatte, und fuhr dann hupend auf die Straße. Das Heer der Radfahrer wich dem schweren Auto in einem Bogen aus. Für einen Herrn Cheng galten keine allgemeinen Verkehrsregeln.
Als Shijie in die Auffahrt des Hotels ›Goldener Drache‹ einbog und vor dem überdachten gläsernen Eingang bremste, hatte sich Timothy Evans gerade in das Abendcafé gesetzt. Er hörte einer schönen, langhaarigen, jungen Pianistin zu, die auf einem schwarzen Flügel ein Medley klassischer Klavierstücke spielte. Erstaunt blickte er auf, als plötzlich ein eleganter Chinese an seinen Tisch trat und in einwandfreiem Englisch fragte:
»Sir, darf ich auf dem freien Stuhl an Ihrem Tisch platznehmen …?«
Evans war so in das Klavierspiel versunken, daß er sich nicht einmal wunderte – es gab schließlich genug leere Tische im Lichthof des Cafés. Er sagte nur:
»Aber bitte, der Stuhl ist ja frei.«
»Ich danke Ihnen, Sir.« Cheng setzte sich Evans gegenüber. Unaufgefordert brachte ein Kellner im weißen Dinnerjackett ein großes Glas frisch gepreßten Orangensaft. Im ›Goldenen Drachen‹ kannte man den reichen Herrn Cheng, seine Vorliebe für Wodka-Orange und junge Mädchen, die gerade dem Kindesalter entwachsen waren.
»Eine hübsche Frau«, sagte Cheng und deutete zu der Pianistin. »Wenn sie nur so gut spielen würde, wie sie aussieht.«
»Mir gefällt es!« Evans sah sich seinen Tischnachbarn jetzt genauer an. Ein gepflegter Mann in einem Maßanzug, weißem Hemd und dezenter Krawatte. Trotz der feuchten Schwüle des Abends hatte er den Schlipsknoten nicht gelockert. Evans, im offenen Hemdkragen, wirkte dagegen geradezu proletarisch. »Auf jeden Fall gibt sie sich alle Mühe …«
So begann ein schicksalhaftes Gespräch, das Evans in nachhaltige Verwirrung stürzen sollte …
*
Kunming, die Hauptstadt der Provinz Yunnan mit 3,5 Millionen Einwohnern, ist auch für den, der meint, China zu kennen, eine Reise wert. Auch hier entwickelt sich das neue China mit Luxushotels, Bürohäusern, Supermärkten, breiten Straßen, aber in der Altstadt, in den engen Gassen, im Gewimmel der Menschen, bei den Hunderten von Garküchen und Verkaufsständen, auf dem Vogelmarkt und bei den auf der Straße sitzenden Schuhmachern, Fahrradreparateuren und Ohrputzern erlebt man noch das alte China, das sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat. Hier taucht der Europäer ein in eine Welt, die er kaum versteht. Das ›Wunder Asien‹ wird greifbarer, dieses für ihn bisher so geheimnisvolle und verschlossene China. Hier kannte man die Buchdruckerkunst mit beweglichen Lettern schon lange, bevor Gutenberg sie in Mainz ›erfand‹. Seit über 1.000 Jahren schon brannte man die kunstvollsten bemalten Vasen aus edelstem Porzellan, als der Alchimist Böttger in Sachsen durch Zufall das Porzellan ›erfand‹. Hier wurden schon die schönsten Seidenstoffe gewebt, als die westliche Welt kratziges Leinen und dicke Wolle trug, und während die
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