Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
Pfarrkindern.»
Niemand antwortet auf das Wort «andere». Er rauscht ab. «Haben Sie schon beobachtet, daß Priester und Generäle meistens steinalt werden?» frage ich Wernicke.
«Der Zahn des Zweifels und der Sorge nagt nicht an ihnen. Sie sind viel in frischer Luf, sind auf Lebenszeit angestellt und brauchen nicht zu denken. Der eine hat den Katechismus, der andere das Exerzierreglement. Außerdem genießen beide größtes Ansehen. Der eine ist hoffähig bei Gott, der andere beim Kaiser.»
Wernicke zündet sich eine Zigarette an. «Haben Sie auch bemerkt, wie vorteilhaf der Vikar kämpf?» frage ich.
«Wir müssen seinen Glauben respektieren – er unsern Unglauben nicht.»
Wernicke bläst den Rauch in meine Richtung. «Er macht Sie ärgerlich – Sie ihn nicht.»
«Das ist es!» sage ich. «Das macht mich ja so ärgerlich!»
«Er weiß es. Das macht ihn so sicher.»
Ich schenke mir den Rest des Weines ein. Kaum anderthalb Glas – das andere hat der Streiter Gottes getrunken – einen Forster Jesuitengarten 95 – Wein, den man nur abends mit einer Frau trinken sollte. «Und Sie?» frage ich.
«Mich geht das alles nichts an», sagt Wernicke. «Ich bin eine Art Verkehrspolizist des Seelenlebens. Ich versuche es an dieser Kreuzung hier etwas zu dirigieren – aber ich bin nicht für den Verkehr verantwortlich.»
«Ich fühle mich immerfort für alles in der Welt verantwortlich. Bin ich eigentlich ein Psychopath?»
Wernicke bricht in ein beleidigendes Gelächter aus. «Das möchten Sie wohl! So einfach ist das nicht! Sie sind völlig uninteressant. Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent!»
Ich komme auf die Große Straße. Langsam schiebt sich ein De
monstrationszug vom Markt her heran. Wie Möwen vor einer dunklen Wolke flattern hastig noch eine Anzahl hellgekleideter Sonntagsausflügler mit Kindern, Eßpaketen, Fahrrädern und buntem Krimskrams vor ihm her – dann ist er da und versperrt die Straße.
Es ist ein Zug von Kriegskrüppeln, die gegen ihre niedrigen Renten protestieren. Voran fährt auf einem kleinen Rollwagen der Stumpf eines Körpers mit einem Kopf. Arme und Beine fehlen. Es ist nicht mehr möglich, zu sehen, ob der Stumpf früher ein großer oder ein kleiner Mann gewesen ist. Selbst an den Schultern kann man es nicht mehr abschätzen, da die Arme so hoch amputiert worden sind, daß kein Platz für Prothesen mehr da war. Der Kopf ist rund, der Mann hat lebhafe braune Augen und trägt einen Schnurrbart. Jemand muß jeden Tag auf ihn achtgeben – er ist rasiert, das Haar ist geschnitten und der Schnurrbart gestutzt. Der kleine Wagen, der eigentlich nur ein Brett mit Rollen ist, wird von einem Einarmigen gezogen. Der Amputierte sitzt sehr gerade und aufmerksam darauf. Ihm folgen die Wagen mit den Beinamputierten; je drei nebeneinander. Es sind Wagen mit großen Gummirädern, die mit den Händen vorwärtsbewegt werden. Die Lederschürzen, die die Stellen zudecken, wo Beine sein müßten, und die gewöhnlich geschlossen sind, sind heute offen. Man sieht die Stümpfe. Die Hosen sind sorgfältig darumgefaltet.
Als nächste kommen Amputierte mit Krücken. Es sind die sonderbar schiefen Silhouetten, die man so of gesehen hat – die geraden Krücken und dazwischen der etwas schräghängende Körper. Dann folgen Blinde und Einäugige. Man hört die weißen Stäbe auf das Pflaster tappen und sieht an den Armen die gelben Binden mit den drei Punkten. Die Augenlosen sind dadurch so bezeichnet, wie man die geschlossenen Einfahrten von Einbahnstraßen oder Sackgassen markiert – mit den drei schwarzen runden Bällen des verbotenen Verkehrs. Viele der Verletzten tragen Schilder mit Aufschrifen. Auch die Blinden tragen welche, wenn sie sie auch nie mehr lesen können. «Ist das der Dank des Vaterlandes?» steht auf einem. «Wir verhungern», auf einem anderen.
Dem Mann auf dem kleinen Wagen hat man einen Stock mit einem Zettel vorn in seine Jacke gesteckt. Darauf steht: «Meine Monatsrente ist eine Goldmark wert.» Zwischen zwei anderen Wagen flattert eine weiße Fahne: «Unsere Kinder haben keine Milch, kein Fleisch, keine Butter. Haben wir dafür gekämpf?»
Es sind die traurigsten Opfer der Inflation. Ihre Renten sind so entwertet, daß sie kaum noch etwas damit anfangen können. Ab und zu werden ihre Bezüge von der Regierung erhöht – viel zu spät, denn am Tage der Erhöhung sind sie schon wieder um ein Vielfaches zu
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