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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Wohnung in Piccadilly, sehr nah an der Ecke zur St. James’s Street. Das Gefühl war mir vollkommen neu. Ich saß da gerade in meinem Lehnsessel, und das Gefühl ging mit einem merkwürdigen Beben einher, das den Sessel aus seiner Position rückte. (Aber es sollte vermerkt werden, dass der Sessel leicht auf Rollen lief.) Ich ging zu einem der Fenster (es gibt in diesem Zimmer zwei, und das Zimmer liegt im zweiten Stock), um meine Augen mit dem Anblick der sich bewegenden Menschen und Gefährte unten in Piccadilly zu erfrischen. Es war ein heller Herbstmorgen, und die Straße glitzertefröhlich. Es wehte ein starker Wind. Als ich herausschaute, trug er gerade vom Park eine Menge gefallenes Laub herbei, das eine Bö erfasste und zu einer spiralförmigen Säule aufwirbelte. Als die Säule in sich zusammenfiel und die Blätter sich verstreuten, sah ich auf der anderen Straßenseite zwei Männer, die von Osten nach Westen gingen. Einer ging hinter dem anderen. Der vordere Mann schaute oft über die Schulter zurück. Der zweite folgte ihm in einem Abstand von etwa dreißig Schritten und hatte die Rechte drohend erhoben. Als Erstes erregte die Eigentümlichkeit und Beharrlichkeit dieser Drohgebärde auf einer so öffentlichen Straße meine Aufmerksamkeit; und als Nächstes der bemerkenswerte Umstand, dass niemand ihr Beachtung schenkte. Beide Männer schlängelten sich zwischen den anderen Passanten mit einer Geschmeidigkeit hindurch, die kaum mit dem Gehen auf einem Bürgersteig vereinbar schien; und kein einziges Geschöpf, das ich sehen konnte, wich ihnen aus, berührte sie oder blickte ihnen nach. Als sie vor meinen Fenstern vorüberkamen, starrten beide zu mir herauf. Ich sah ihre Gesichter sehr deutlich, und mir war klar, dass ich sie überall wiedererkennen würde. Nicht, dass ich bewusst irgendetwas Bemerkenswertes in einem der Gesichter wahrgenommen hätte, außer dass der Mann, der als Erster ging, ungewöhnlich finster aussah, und dass das Gesicht des Mannes, der ihm folgte, die Farbe von ungeklärtem Wachs hatte.
    Ich bin Junggeselle, und mein Diener und seine Frau bilden meinen gesamten Haushalt. Ich bin in einer gewissen Bankfiliale beschäftigt, und ich wünschte, meine Pflichten als Abteilungsleiter wären so einfach, wie das im Allgemeinen angenommen wird. Meine Arbeit hielt mich jedenfalls in jenem Herbst in der Stadt fest, obwohl ich eine Luftveränderung bitter nötig gehabt hätte. Ich war nicht krank,aber es ging mir nicht gut. Der Leser soll sich seinen eigenen Reim darauf machen, dass ich mich matt fühlte, dass mich mein monotones Leben bedrückte und ich an einem »leicht gereizten Magen« litt. Mein renommierter Arzt versicherte mir, dass mein tatsächlicher Gesundheitszustand zu diesem Zeitpunkt keine stärkere Diagnose verdient hätte, und ich zitiere dies aus seiner schriftlichen Antwort auf meine diesbezügliche Anfrage.
    Als dann allmählich die Umstände des Mordes bekannt wurden und sich immer mehr ins öffentliche Bewusstsein drängten, hielt ich sie von meinen Gedanken fern, indem ich so wenig darüber in Erfahrung brachte, wie es inmitten der allgemeinen Aufregung möglich war. Aber ich wusste, dass man jemanden des vorsätzlichen Mordes verdächtigte und ihn bis zum Prozess nach Newgate überstellt hatte. Ich wusste auch, dass man seinen Prozess auf die übernächste Sitzung des Zentralen Strafgerichts verschoben hatte, und zwar wegen allgemeiner Voreingenommenheit und weil es seinen Anwälten sonst an Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung gemangelt hätte. Vielleicht habe ich des Weiteren gewusst, wenn ich das auch nicht glaube, dass die Sitzung, auf die man diesen Prozess verschoben hatte, nun bald kommen sollte.
    Mein Wohnzimmer, Schlafzimmer und Ankleidezimmer liegen alle auf einem Stockwerk. Letzteres ist nur über das Schlafzimmer zu erreichen. Es stimmt, es hat eine Tür, die Zugang zur Treppe gewährt; aber ein Teil der Armaturen meines Bades sind – und zwar schon einige Jahre – darüber befestigt. Zur selben Zeit – und als Teil derselben Umbauten – hatte man diese Tür vernagelt und mit Leinwand bespannt.
    Ich stand eines Abends spät in meinem Schlafzimmer und erteilte meinem Diener einige Anweisungen, ehe er zuBett ging. Mein Gesicht war zu der einzigen zur Verfügung stehenden Verbindungstür mit dem Ankleidezimmer gewandt, und diese war geschlossen. Mein Diener stand mit dem Rücken zur Tür. Während ich mit ihm redete, bemerkte ich, wie die Tür aufging und

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