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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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aufgelegt war, mich schon hinzulegen, und Mr. Harker auf seinem Bett sitzen sah, ging ich zu ihm, setzte mich neben ihn und bot ihm eine Prise Schnupftabak an. Als Mr. Harker die Prise aus meiner Dose nahm und dabei mit seiner Hand die meine berührte, überlief ihn ein seltsamer Schauer, und er fragte: »Wer ist das?«
    Mr. Harkers Blick folgend, schaute ich durch das Zimmer und sah wieder die Gestalt, die ich erwartet hatte – den zweiten der beiden Männer, die den Piccadilly entlanggegangen waren. Ich erhob mich und trat einige Schritte vor; blieb dann stehen und schaute mich zu Mr. Harker um. Der war ganz unbekümmert, lachte und sagte freundlich: »Ich dachte schon einen Augenblick lang, wir hätten einen dreizehnten Geschworenen, für den wir kein Bett haben. Aber jetzt sehe ich, dass es das Mondlicht ist.«
    Ich klärte Mr. Harker nicht auf, sondern bat ihn, mit mir bis zum Ende des Raumes zu gehen, und beobachtete, was die Gestalt machte. Sie stand einen Augenblick lang neben dem Bett eines jeden meiner elf Mitgeschworenen, nah beim Kopfkissen. Sie ging immer zur rechten Seite des Bettes weiter und um das Fußende herum zur rechten Seite des nächsten Bettes. Der Kopfbewegung nach zu schließen, schaute die Gestalt anscheinend nur gedankenverloren auf jeden der Schlafenden. Sie schenkte mir keine Beachtung, auch meinem Bett nicht, das dem von Mr. Harker am nächsten stand. Dann schien sie dort den Raum zu verlassen,wo das Mondlicht hereinkam, durch ein hohes Fenster zu schreiten, als sei es eine luftige Treppe.
    Am nächsten Morgen beim Frühstück zeigte sich, dass alle Anwesenden in der Nacht zuvor von dem ermordeten Mann geträumt hatten, alle außer mir und Mr. Harker.
    Ich war nun so sehr davon überzeugt, dass der zweite Mann, der den Piccadilly hinuntergegangen war, der ermordete Mann gewesen war (sozusagen), als hätte seine unmittelbare Aussage mir dieses Wissen vermittelt. Doch selbst diese unmittelbare Aussage fand noch statt, und zwar auf eine Art und Weise, auf die ich überhaupt nicht vorbereitet war.
    Am fünften Tag des Prozesses, als die Beweisaufnahme des Anklägers ihrem Ende entgegenging, wurde eine Miniatur des Ermordeten als Beweisstück vorgelegt, die zum Zeitpunkt der Entdeckung der Untat in seinem Schlafzimmer gefehlt hatte und dann in einem Versteck gefunden wurde, wo man den Mörder hatte graben sehen. Nachdem sie vom Zeugen während seiner Befragung identifiziert worden war, reichte man sie zur Richterbank und von dort zu den Geschworenen, damit diese sie sich ansehen konnten. Während ein Beamter in einem schwarzen Talar sich mit dem Beweisstück in der Hand auf den Weg zu mir machte, sprang die Gestalt des zweiten Mannes, der den Piccadilly entlangegangen war, aus der Menge auf, nahm dem Beamten die Miniatur ab und gab sie mir mit eigenen Händen, während sie gleichzeitig mit leiser, hohler Stimme sagte – ehe ich die Miniatur gesehen hatte, die sich in einem Amulett befand: »
Ich war damals jünger, und es war noch nicht alles Blut aus meinem Gesicht gewichen
.« Sie mischte sich gleichermaßen auch in die Übergabe der Miniatur von mir an den Mitgeschworenen ein, dem ich sie hätte reichen sollen, und in ihre Weitergabe an den Mitgeschworenen,dem er sie übergeben hätte, und so reichte die Gestalt die Miniatur uns allen in der Reihe nacheinander und brachte sie dann wieder mir. Nicht einer der anderen bemerkte dies jedoch.
    Bei Tisch und im Allgemeinen, wenn wir miteinander unter der Obhut von Mr . Harker zusammengesperrt waren, hatten wir von Anfang an natürlich die Vorkommnisse des Tages recht ausgiebig besprochen. An jenem fünften Tag, nachdem die Staatsanwaltschaft ihren Klageantrag beendet hatte und wir diese Seite des Falls vollständig vorliegen hatten, war unsere Konversation lebhafter und ernster. Unter uns war ein Kirchenältester – der begriffsstutzigste Blödian, den ich je frei herumlaufen sah –, der stets die absurdesten Einwände gegen die offensichtlichsten Beweisstücke vorbrachte und der von zwei saft- und kraftlosen Schmarotzern aus seinem Kirchspiel flankiert wurde; alle drei waren aus einem Bezirk ernannt, der so völlig dem Fieber anheimgefallen war, dass man eigentlich
sie
für fünfhundert Morde hätte anklagen müssen. Als diese bösartigen Schafsköpfe am lautesten geworden waren, was gegen Mitternacht war, während einige von uns anderen sich bereits anschickten, zu Bett zu gehen, sah ich den Ermordeten wieder. Er stand mit grimmiger Miene

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