Der schwarze Schleier
seltsame Schaudern, das ich so gut kannte, überlief ihn; er zögerte: »Entschuldigen Sie mich einige Augenblicke, meine Herren. Ich fühle mich ein wenig bedrückt durch die schlechte Luft im Saal.« Und er erholte sich erst wieder, nachdem er ein Glas Wasser getrunken hatte.
In all der Gleichförmigkeit der zehn nicht enden wollenden Tage – dieselben Richter und Gerichtsdiener auf der Richterbank, derselbe Mörder auf der Anklagebank, dieselben Rechtsanwälte an ihren Tischen, dasselbe Gemurmel von Frage und Antwort, das zur Decke des Gerichtssaals hinaufschwebte, dasselbe Kratzen der Feder des Richters, dieselben Gerichtsdiener, die ein und aus gingen, dieselben Lichter, die zur selben Stunde angezündet wurden, wenn es überhaupt natürliches Tageslicht gegeben hatte, derselbe Nebelvorhang draußen vor den großen Fenstern, wenn es neblig war, derselbe Regen, der draußen platschte und tropfte, wenn es regnerisch war, dieselben Fußstapfen der Schließer und des Gefangenen in denselben Sägespänen, dieselben Schlüssel, die immer wieder dieselben schweren Türen auf- und wieder zusperrten –, in all dieser ermattenden Gleichförmigkeit, die mir das Gefühl gab, als sei ich bereits seit unermesslichen Zeiten Sprecher der Geschworenen und als hätte der Piccadilly gleichzeitig mit Babylon seine Blütezeit erlebt, verlor doch der Ermordete in meinen Augen niemals auch nur eine Spur seiner deutlichen Klarheit, noch war er zu irgendeiner Zeit weniger scharf gezeichnet als alle anderen. Ich darf nicht vergessen, als Tatsache zu erwähnen, dass ich niemals gesehenhabe, wie die Erscheinung, die ich beim Namen des Ermordeten nenne, ein einziges Mal den Mörder anschaute. Wieder und wieder fragte ich mich: Warum machte er das nicht? Aber er tat es nie.
Auch mich schaute er nicht mehr an, nachdem man die Miniatur vorgelegt hatte, bis dann die letzten, abschließenden Augenblicke des Prozesses begannen. Wir zogen uns um sieben Minuten vor zehn Uhr nachts zur Beratung zurück. Der blödsinnige Kirchenälteste und seine beiden beschränkten Schmarotzer bereiteten uns so viele Schwierigkeiten, dass wir zweimal in den Gerichtssaal zurückgehen und darum bitten mussten, man möge uns bestimmte Auszüge aus den Aufzeichnungen des Richters erneut vorlesen. Neun von uns hegten nicht den geringsten Zweifel bezüglich dieser Seiten, genauso wenig, glaube ich, wie irgendjemand sonst im Gerichtssaal; das schwachköpfige Triumvirat, dem nichts außer Obstruktion einfiel, zweifelte sie aus eben diesem Grunde an. Schließlich setzten wir uns durch, und endlich kehrten die Geschworenen um zehn Minuten nach zwölf in den Gerichtssaal zurück.
Der Ermordete stand in jenem Augenblick unmittelbar gegenüber der Geschworenenbank auf der anderen Seite des Gerichtssaals. Als ich meinen Platz einnahm, ruhten seine Augen mit großer Aufmerksamkeit auf mir; er schien zufrieden zu sein und breitete langsam einen großen grauen Schleier, den er zum ersten Mal über dem Arm trug, über den Kopf und seine ganze Gestalt. Sobald ich unseren Spruch »Schuldig« verkündete, sackte der Schleier zusammen, und die Stelle war leer.
Als der Richter, wie es üblich ist, den Mörder fragte, ob er noch etwas zu sagen hätte, ehe das Todesurteil über ihn gefällt würde, murmelte er einige undeutliche Worte, die am nächsten Tag von den führenden Zeitungen als »einigeweitschweifige, unzusammenhängende und nur halb hörbare Worte« beschrieben wurden, »mit denen er sich wohl beklagte, man hätte ihm kein faires Verfahren gewährt, weil der Sprecher der Geschworenen von vornherein gegen ihn voreingenommen gewesen sei.« Aber die bemerkenswerte Erklärung, die er wirklich abgegeben hatte, war folgende:
»My Lord, ich wusste, dass ich dem Tod geweiht war, als der Sprecher der Geschworenen auf der Bank Platz nahm. My Lord, ich wusste, dass er mich nicht davonkommen lassen würde, denn, ehe ich verhaftet wurde, erschien er irgendwie in der Nacht an meinem Bett, weckte mich und legte mir eine Schlinge um den Hals.«
Erstmals erschienen 1865 als Teil von »Doctor Marigold’s Prescriptions« in der Weihnachtsausgabe von »All the Year Round«.
In die Gesellschaft gehen
Zu einer bestimmten Zeit in seinen wechselhaften Geschicken geschah es dem Haus, dass es von einem Schausteller bewohnt wurde. Man fand ihn in den Gemeindebüchern aus der Zeit, als er das Haus mietete, als Bewohner eingetragen, und deswegen war es gar nicht nötig, weitere Hinweise auf
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