Der Schwur der Venezianerin
einer der beiden Götter würde erscheinen. Aber was nicht zu fassen war, beide glitten mit derselben Gondel an den Palast heran.
Unter einem milden nächtlichen Himmel ließen sie sich von den Verständigen der Kunst messen und bewundern. Ihre eifersüchtige Gegnerschaft ließen sie sich nicht anmerken. Sie behandelten sich gegenseitig höflich und zuvorkommend. Aufgrund seines hohen Alters hatte der siebzigjährige Tizian als Erster die Zuneigung der Bankiers und Händler errungen. Er würde an diesem Abend sein bis dahin verdecktes neuestes Gemälde als Erster enthüllen.
Bianca war gespannt, wie dieses Bild bei den Reichen und Überausreichen ankommen würde?
Das lebensgroße Bild war rechtzeitig auf einem Podest und einer doppeltgroßen Staffelei verdeckt aufgerichtet worden. Der Meister selbst habe den Aufbau Abende vorher geleitet und für die richtige Beleuchtung gesorgt, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Lampions und Kerzen, Öllampen und weiter entfernte Fackeln sollten das Werk in seiner schönsten Beleuchtung erscheinen lassen. Von jeder Seite, von jeder Entfernung und unter jeglicher Beleuchtung habe Tizian die Wirkung seines Gemäldes überprüft, beteuerten die Wissenden.
Ehrfurchtsvoll schwiegen die Gäste im Garten, als sich Tizian zur Enthüllung gemessenen Schrittes auf das Podium begab. Sein gepflegter, weißer Backen- und Kinnbart schimmerte im Widerschein der vielen Kerzen. Die Fackeln hoben seine funkelnden Augen hervor, seine spitze Nase in dem schlanken, schmalen Gesicht und der fest geschlossene Mund verliehen seinem zelebrierten Auftritt die Bedeutung eines göttlichen Wunders.
Tizian sprach nicht, Tizian erklärte nicht, Tizian legte noch nicht einmal Hand an das Tuch. Tizian war da. Er füllte den Raum und nichts außer Tizian spielte in dem Moment eine Rolle. Mit seinem Erscheinen auf dem Podium übernahm er den Garten und die Gesellschaft der Patrizier bei Cappello. Jedermann trat ehrfurchtsvoll vor dieser Erscheinung in den Hintergrund.
Keine Gläser klirrten, die schmatzenden Mäuler pressten ihre Lippen aufeinander, Sklaven und Tänzerinnen blieben im Palast und wagten nicht den Auftritt zu stören.
Unter den Klängen einer sanft gespielten Laute hoben zwei Diener in einer langsamen Zeremonie das Tuch von dem Gemälde. Ein Ausrufer kündigte das große Kunstwerk mit lauter aber angenehmer Stimme an:
Venus Venezia
Die fernen Tenöre der Gondoliere untermalten den Akt mit den sanftesten Liebesliedern. Versteckt im Garten spielte ein Meister seines Fachs leise Melodien auf der Laute. Mit „Ah“ und „Oh“ bedachten die kunstverständigen Gäste das neueste Werk des über alle Grenzen hinaus verehrten Genies, bis endlich ein Beifallssturm den Garten des Palazzo Cappello erschütterte.
Eine glücklich und erotisch im Gras spielende, nackte Schönheit war enthüllt. Die lieblichste junge Frau Venedigs stellte sich in dem Gemälde dar und jeder erkannte sofort, ohne es auszudrücken, die vierzehnjährige Tochter des Hausherrn. Lange und ausgiebig besprachen die Gäste die schöne junge Frau, konnten sich an der Herrlichkeit nicht sattsehen.
Fürstlich schwebte das Mädchen im Gras, die sinnliche Lebensfreude überzog ihr engelhaftes Antlitz. Mit höchstem malerischem Können hatte der Meister die Licht und Glanz sprühenden Farben mit unmittelbarster Lebenserfahrung dem Mädchen zuteilwerden lassen. Die göttliche Venus beanspruchte mit der Haltung ihrer Beine die erregten Gemüter der Herren und manch eine Madonna musste ihren Gemahl tatkräftig am Arm zupfen, um ihn zu sich selbst und zu ihr zurückzuführen. Die spannungsstarke Darstellung der unschuldigen Jungfrau überwältigte die Gemüter der sinnlichen Venezianer.
Unauffällig in der Menge der zahllosen Gäste traf das Bildnis den jungen, fein gekleideten Pietro Bonaventuri wie ein Keulenschlag.
Wenn er auch nicht zu dieser protzenden Gesellschaft gehörte, das Mädchen traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Der Atem versagte ihm, er verlor nahezu seine Sinne. Die Komposition der Farben, die Lieblichkeit der Töne und doch auch die Kunst des einmaligen Pinselstriches sogen ihm wie ein Kraftstrahl aus göttlichen Quellen den Atem aus der Brust. War es das Werk dieses Künstlers oder die Anmut der jungen Frau? Er empfand den ästhetischen Wellenschwung des Werkes auf der Leinwand wie ein bis dahin nicht geahnten und nicht erkannten Gleichklang von Körper, Geist und Seele. Er wurde hungrig und durstig nach
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