Der seekranke Walfisch. Oder: Ein Israeli auf Reisen.
Artistengewerkschaft.
Indessen kam ich bald dahinter, daß sie ihren prominenten Rang einem ganz ändern Umstand verdankte: nämlich ihrer Meisterschaft in der Herstellung von »Kontakt mit dem Publikum«. Das war es, was ihr keiner nachmachte. Das war ihre Domäne. Die Art, wie sie das Mikrophon in die Hand nimmt... wie sie in den Zuschauerraum steigt... durch die Seitengänge streift... bei einem ausländischen Besucher anhält und mit ihm ein paar Worte in seiner Muttersprache wechselt... wie sie im Vorübergehen ein Scherzwort fallenläßt oder ein schlüpfriges Offert... wie sie einen friedlich dasitzenden Herrn auf die Glatze küßt... es ist einmalig.
An jenem schicksalsschweren Abend hatte sie für irgendwelche Bühnenzwecke drei männliche Besucher eingesammelt, einen baumlangen Amerikaner, einen eher kurzgewachsenen Spanier und einen beleibten Italiener. Nachdem sie den Widerstand der drei überwunden und sie auf die Bühne gezerrt hatte, wo sie von den kichernden Girls empfangen wurden, stemmte Großmutti die Hände in die pantherfellbekleideten Hüften, ließ ihre Blicke durch das Haus schweifen und verkündete:
»Ich brauch noch einen!«
Ohne zu prahlen, darf ich sagen, daß ich mich schon wiederholt in lebensgefährlichen Situationen befunden habe. Ich bin aus mehreren Gefangenenlagern entflohen, habe im israelischen Befreiungskrieg mitgekämpft und einmal sogar an einem Friedenskongreß der »Liga der Völkerverständigung« teilgenommen. Aber noch nie im Leben fühlte ich mich von so panischer Angst ergriffen wie in dem Augenblick, da Großmutti auf meinen Sitz in der ersten Reihe zusteuerte. Es war entsetzlich. Ich wurde abwechselnd rot und blaß, schrumpfte zusammen und suchte verzweifelt nach Deckung. Vor meinem geistigen Auge zogen blitzartig die schmerzlichsten Erinnerungen an meine glückliche Kindheit vorbei.
»Schön...«, zischte dicht neben mir die Schlange, mit der ich verheiratet bin. »Sie kommt dich holen!«
Im nächsten Augenblick stand Großmutti vor mir. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, aber da beugte sie sich schon über mich, und aus dem roten Querschlitz in ihrer erschreckend starren Maske drang die Frage:
»Woher kommst du, kleiner Liebling?«
Ich verkroch mich unter den Sitz und blieb stumm. Schließlich bin ich nicht verpflichtet, eine französische Frage zu verstehen.
»Er kommt aus Israel«, antwortete an meiner Stelle die Schlange neben mir laut und deutlich, während die Blicke der tausendäugigen Bestie Publikum von allen Seiten auf mich eindrangen.
Großmutti schwenkte die Hüften:
»Israel«, wiederholte sie genießerisch. »Oh-la-la. Schalom.«
Und sie schlang ihre Fangarme um mich. In diesem Augenblick begriff ich die Ursachen der religiösen Renaissance, die wir heute erleben. Der Mensch ist einsam. Inmitten einer feindlichen Umwelt ist er einsam und ganz auf sich gestellt. Er braucht ein höheres Wesen, an das er glauben kann, bei dem er Schutz findet vor den Fährnissen des Daseins. Ich selbst war ihnen schutzlos ausgeliefert.
Großmutti deutete mit ihrer von blauen Adern durchzogenen Greisinnenhand auf die Schlange und fragte:
»Das ist Madame?«
Ich schwieg beharrlich, aber die Schlange nickte freundliche Bejahung. Daraufhin wollte Großmutti wissen, ob Madame eifersüchtig sei.
»Laß den Blödsinn und geh nach Hause«, raunte ich hebräisch in Großmuttis Ohr. »Deine verlassenen Enkelkinder warten. Sie schreien nach Brot. Kümmer dich nicht um mich und geh... «
Krampfhaft versuchte ich, ihrem Klammergriff zu entrinnen.
Aber das war nur Wasser auf ihre klapprige Mühle. Unter dem stürmischen Beifall des Hauses drückte sie mich in den Sitz zurück und ließ sich mit unnachahmlichem französischen Chic auf meinen Schoß fallen. Eine detaillierte Schilderung des Vorgangs möchte ich mir ersparen. Genug daran, daß Großmutti meinen heftig widerstrebenden Kopf gegen ihr Dekollete preßte und mit rauher Stimme fragte:
»Siehst du gut, mein Kleiner?«
»Ich sehe Abscheuliches«, preßte ich mühsam hervor und mußte gegen den Hustenreiz ankämpfen, den die aufsteigenden Puderwolken mir verursachten. »Gehen Sie von meinen Knien herunter, oder ich rufe um Hilfe...«
»Ah, Cheri!« Großmutti erhob sich mit krachenden Knochen, küßte meine Nase und wollte mich auf die Bühne zerren. Dabei erwies sie sich als erstaunlich muskulös. Ich merkte das daran, daß der Griff, mit dem ich mich an der Armlehne meines Sitzes anklammerte, immer
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